Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
heutigen Abends mit allen ihren Besonderheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.
Im Grunde ihres Herzens hatte sie die Empfindung, etwas Auffälliges sei vor allem an der Art zu finden gewesen, wie er ihr nach dem andern Ende des Tisches nachgegangen sei; aber das wagte sie nicht einmal sich selbst einzugestehen, und noch viel weniger hätte sie sich entschließen können, es ihm zu sagen und seine Qualen dadurch zu vergrößern.
»Was kann denn aber an mir Anziehendes sein, so wie ich jetzt aussehe? ...«
»Oh!« rief er und griff sich an den Kopf. »Das hättest du nicht sagen sollen! ... Also wenn du anziehend wärest ...«
»Nein, nein, Konstantin, warte doch, höre doch nur!« sagte sie und sah ihn mit tieftraurigem, mitleidsvollem Ausdruck an. »Wie kannst du denn so etwas denken? Wo doch für mich andere Menschen gar nicht da sind, gar nicht bestehen! ... Willst du, daß ich überhaupt mit keinem Menschen mehr zusammenkommen soll?«
Im ersten Augenblick hatte seine Eifersucht sie gekränkt; sie hatte sich darüber geärgert, daß ihr auch die kleinste, harmloseste Zerstreuung verboten sein sollte. Aber jetzt hätte sie gern nicht nur solche Kleinigkeiten, sondern alles, alles zum Opfer gebracht, um ihn zu beruhigen und von den Qualen, die er litt, zu befreien.
»Stell dir nur einmal vor, wie schrecklich und zugleich wie lächerlich meine Lage ist«, fuhr er verzweifelt mit flüsternder Stimme fort. »Er ist Gast in meinem Hause, und er hat nichts Unanständiges im eigentlichen Sinne des Wortes getan, abgesehen von seinem ganzen freien Benehmen und davon, daß er immer auf dem untergeschlagenen Bein sitzt. Er ist der Ansicht, daß das durchaus guter Ton ist, und darum ist es meine Schuldigkeit, gegen ihn liebenswürdig zu sein.«
»Aber Konstantin, du übertreibst«, erwiderte Kitty, die sich im Grunde ihres Herzens über die Stärke der Liebe freute, die jetzt in seiner Eifersucht zum Ausdruck kam.
»Das Allerschrecklichste ist, daß du die gleiche bist, die du immer warst, und jetzt, wo du für mich ein solches Heiligtum bist, wo wir so glücklich, so ganz besonders glücklich waren, da muß auf einmal dieser elende Patron ... Nein, das will ich nicht sagen; wozu schimpfe ich auf ihn? Ich habe ihm ja eigentlich nichts vorzuwerfen. Aber warum soll mein und dein Glück ...«
»Weißt du, ich glaube zu verstehen, woher das alles gekommen ist«, begann Kitty.
»Nun woher? Woher?«
»Ich sah, wie du auf uns blicktest, als wir beim Abendessen miteinander sprachen.«
»Jawohl, jawohl!« erwiderte Ljewin voller Angst.
Und nun erzählte sie ihm, wovon sie gesprochen hatten. Während sie redete, konnte sie kaum atmen vor Erregung. Ljewin schwieg einen Augenblick; dann blickte er ihr in das blasse, angstvolle Gesicht und griff sich an den Kopf.
»Katja, ich habe dir Qualen bereitet! Liebste, Beste, verzeih mir! Es war Wahnsinn von mir! Katja, ich allein bin der Schuldige. Wie habe ich mich nur um einer solchen Dummheit willen so quälen können!«
»Ach, du tust mir so leid!«
»Ich tue dir leid? Ich? Was habe ich Wahnsinniger getan? ... Wofür bin ich dir böse gewesen? Ein entsetzlicher Gedanke, daß jeder fremde Mensch unser Glück zerstören kann.«
»Gewiß, das ist eben das Schmerzliche ...«
»Aber nun will ich ihn ganz im Gegenteil absichtlich den ganzen Sommer über bei uns behalten und mich ihm gegenüber in Liebenswürdigkeiten überbieten«, sagte Ljewin und küßte Kittys Hände. »Das sollst du sehen. Morgen schon. Ja, richtig, morgen fahren wir ja auf die Jagd.«
8
A m andern Tage frühmorgens – die Damen waren noch nicht aufgestanden – standen die für die Jagd bestimmten Gefährte, ein leichter Jagdwagen und ein Bauernwagen, vor der Haustür, und Laska, die schon lange vorher gemerkt hatte, daß es auf die Jagd gehen sollte, saß nun, nachdem sie lange gejault hatte und umhergesprungen war, auf dem Jagdwagen neben dem Kutscher und blickte aufgeregt und mit der Verzögerung unzufrieden nach der Tür, aus der die Jäger immer noch nicht herauskommen wollten. Der erste, der erschien, war Wasenka Weslowski in großen, neuen Stiefeln, die bis zur Hälfte seiner dicken Oberschenkel hinaufreichten, in einer grünen Bluse, über der er an einem Gurte eine neue, noch nach Leder riechende Patronentasche trug, seine Bändermütze auf dem Kopf und eine nagelneue englische Flinte ohne Riemenringe und ohne Tragriemen
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