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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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eine allgemeine, eine philosophische Wahrheit!« Er betonte mit
    Entschiedenheit das Wort »philosophische«, wie wenn er zeigen wollte, daß er wie jeder andere das Recht habe, über
    Philosophie zu sprechen.
    Sergei Iwanowitsch lächelte abermals. ›Auch der da hat so eine Art von eigener Philosophie, die seinen Neigungen
    dienen muß‹, dachte er.
    »Na, weißt du, von der Philosophie bleib lieber davon!« sagte er. »Die Hauptaufgabe der Philosophie aller Zeiten
    hat gerade darin bestanden, jene notwendige Verbindung zu erkennen, die zwischen dem persönlichen Interesse und dem
    allgemeinen Interesse besteht. Aber das gehört nicht zur Sache; folgendes jedoch gehört dazu: ich brauche den
    Vergleich, dessen du dich bedientest, nur ein wenig zu ändern, um ihn für mich zu verwerten. Die Birkenstämmchen,
    um die es sich hier handelt, sind keineswegs einfach in die Erde hineingestoßen, sondern manche von ihnen sind
    eingepflanzt, andere aus Samen gezogen, und man muß mit ihnen recht sorgsam und vorsichtig umgehen. Nur die Völker
    haben eine Zukunft, nur die Völker kann man geschichtliche Völker nennen, die ein deutliches Gefühl dafür haben,
    was an ihren Einrichtungen von Wichtigkeit und Bedeutung ist und denen diese Einrichtungen lieb und wert sind.«
    Und nun trug Sergei Iwanowitsch die Untersuchung auf das philosophisch-historische Gebiet hinüber, auf das ihm
    Konstantin Ljewin nicht folgen konnte, und wies ihm die ganze Verkehrtheit seiner Ansicht nach.
    »Was nun den Umstand anlangt, daß dir diese neuen Einrichtungen nicht gefallen, so liegt das, nimm mir's nicht
    übel, an unsrer russischen Trägheit und an unserm Herrendünkel; ich bin aber überzeugt, daß das bei dir nur eine
    zeitweilige Verirrung ist und vorübergehen wird.«
    Konstantin schwieg. Er fühlte, daß er auf der ganzen Linie geschlagen war, hatte aber zugleich die Empfindung,
    daß das, was er hatte sagen wollen, von seinem Bruder nicht verstanden worden war. Er wußte nur nicht, warum es
    nicht verstanden worden war: ob deshalb, weil er es nicht verstand, seine Meinung klar zum Ausdruck zu bringen,
    oder weil der Bruder ihn nicht verstehen wollte oder weil er nicht imstande war, ihn zu verstehen. Aber er
    vertiefte sich nicht weiter in diese Überlegungen, sondern begann, ohne seinem Bruder etwas zu erwidern, über eine
    ganz andere, ihn persönlich betreffende Angelegenheit nachzudenken.
    Sergei Iwanowitsch wickelte die letzte Angel auf, band das Pferd los, und sie fuhren heim.

4
    Die persönliche Angelegenheit, die Ljewin während des Gespräches mit seinem Bruder sich hatte im Kopfe
    herumgehen lassen, war folgende: als er im vorigen Jahre einmal hinausgefahren war, um das Heumähen zu besichtigen,
    und sich dabei über den Verwalter hatte ärgern müssen, da hatte er sein beliebtes Beruhigungsmittel angewandt: er
    hatte einem Bauern die Sense weggenommen und selbst zu mähen angefangen.
    Diese Arbeit hatte ihm so gut gefallen, daß er nachher noch mehrmals zu ihr gegriffen hatte; er hatte die ganze
    Wiese vor dem Hause gemäht und sich in diesem Jahre gleich bei Frühlingsanfang vorgenommen, mehrere volle Tage mit
    den Bauern zusammen zu mähen. Aber mit der Ankunft des Bruders war er wieder unschlüssig geworden, ob er mähen
    solle oder nicht. Es war ihm peinlich, den Bruder ganze Tage lang allein zu lassen; auch fürchtete er, der Bruder
    werde sich wegen dieser Arbeit über ihn lustig machen. Als er jedoch über die Wiese gegangen war und sich der
    fröhlichen Stimmung erinnert hatte, in die ihn damals das Mähen versetzt hatte, da war er in seinem Vorsatze zu
    mähen beinahe wieder fest geworden. Nun, nach dem aufregenden Gespräche mit dem Bruder, kam ihm sein Vorhaben
    wieder ins Gedächtnis.
    ›Ich bedarf dringend körperlicher Bewegung; sonst verschlechtert sich entschieden mein Charakter‹, sagte er sich
    und beschloß zu mähen, ohne Rücksicht auf die peinliche Empfindung seinem Bruder und dem Bauernvolke gegenüber.
    Am Abend ging Konstantin Ljewin ins Kontor, traf Anordnungen für die bevorstehenden Arbeiten und schickte nach
    den Nachbardörfern, um für morgen Mäher zu bestellen, damit die Kalinowü-Wiese, die größte und beste von allen,
    gemäht werden könne.
    »Ja, und dann schicken Sie doch auch, bitte, meine Sense zu Tit; er soll sie dengeln und morgen mit
    hinausbringen; vielleicht mähe ich auch mit«, sagte er, bemüht, seiner Verlegenheit Herr zu werden.
    Der Verwalter antwortete lächelnd:

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