Anna Marx 9: Feuer bitte
wiedersehen?«, forscht Sibylle. Neugierig war sie immer schon, doch seit sie Mutter ist und dem Sex-assex-can abgeschworen hat, schwingt leichte Eifersucht in ihren Fragen. Sie will Anna ganz für sich haben, als Freundin, Klagemauer und Leihmutter, und Männer empfindet sie in diesem Zusammenhang als Bedrohung.
»Ich weiß nicht. Wenn er mich so tollkühn füttert, schon. Er ist einfach nett, und ich schulde ihm was, wie du weißt.«
»Aber keinen Sex«, sagt Sibylle.
Fjodor zwinkert Anna zu, und sie weiß, dass er als Geheimnisträger nichts taugt. Sie sollte jetzt sagen, dass Sibylle sich aus ihrem Intimleben raushalten soll, doch Anna schweigt feige und wechselt das Thema. Sie erzählt von Josef Gangwein, dem Dichter, der ein Heiratsschwindler sein könnte, und nimmt sich vor, Julias Bücherregal noch einmal zu durchforsten. »Hautfetzen« heißt sein Gedichtband, und wenn er Julia kannte, wird er ihn ihr geschenkt haben. Ein kleines, unscheinbares Buch, und wenn sie es fände, wäre dies ein fast unschlagbarer Beweis. Fast, denn natürlich gab es die »Hautfetzen« auch zu kaufen, doch dies wäre ein unwahrscheinlicher Zufall. Julia hat alles vernichtet, was auf den letzten Mann in ihrem Leben hindeuten könnte. Aber die Geschenke …?
Jetzt fällt ihr ein, was sie vergessen hat: Das Präservativ mit Monsterkopf, das sie in der Dunckerstraße für Freddy besorgt hat. Sie holt es aus ihrer Tasche und legt es vor Freddy auf die Theke. »Ein neues Teil für deine Sammlung …«
Freddy, zurzeit in einen arbeitslosen Investmentbanker verliebt, der Blumen in Kneipen verkauft, nimmt das Geschenk huldvoll in Empfang. Sex ist komisch, traurig, aufregend, unschlagbar … und ist alles, das ihn am Leben hält. Wäre er impotent wie Fjodor, er würde sich auf der Stelle umbringen. Mit dem schönen venezianischen Dolch, den ihm einer seiner Liebhaber geschenkt hat. Helmut starb an Aids, das kommt vor, und die konsequente Anwendung von Präservativen hat Freddy vor diesem Schicksal bewahrt. Seither sammelt er sie wie Reliquien, und Anna, die Gute, hat nicht vergessen, dass er heute sein Jubiläum feiert: Fünf Jahre Barkeeper im »Mondscheintarif«. Sibylle hat nicht daran gedacht, doch er verzeiht dem Muttertier, weil es von seinem kleinen Monster allmählich aufgefressen wird. Sie sieht erbärmlich aus, Frauen ihres Alters sollten auf den Schönheitsschlaf achten. Und wären nicht Anna und die Kellnerinnen und Freddys vorübergehend beschäftigungslose Kumpel, die Jonathan betreuen, dann müsste Sibylle die Kneipe glatt aufgeben. Was schade wäre, denn sie ist seine Heimat, das Hauptquartier seiner sexuellen Beutezüge, die Oase seines Wohlbefindens, denn er braucht Gesellschaft wie andere die Luft zum Atmen. Alles erträgt er, nur nicht die Stille des Alleinseins. Weshalb ihm egal ist, wenn Gäste kein Ende finden, außer natürlich, er hat schon einen Lover für die Nacht gefunden und muss nicht allein sein.
Freddy wartet auf seinen Blumenverkäufer und gibt in der Zwischenzeit eine Flasche Schampus aus, zur Feier des Tages. Er wird vergessen, sie zu bezahlen, und Sibylle wird es nicht merken. Sie vertraut ihm, denn sie hat keine Wahl, und im Großen und Ganzen kann sie sich auf seine Anständigkeit verlassen. Mehr oder weniger.
Anna bleibt bei Rotwein. Und raucht schon wieder. Rauchen lässt die Haut altern, ach, was hat Fjodor ihr schon alles erzählt, und sie glaubt dennoch, dass sie unsterblich sei. Er röchelt theatralisch und eilt zum Fenster, um es zu öffnen. Die letzten zahlenden Gäste verlangen nach der Rechnung, und Sibylle sieht ihnen dankbar nach, als sie das Lokal verlassen.
Fjodor bietet Anna an, sie heimzubegleiten, und weil sie im selben Haus wohnen, kann sie nicht gut ablehnen. Sibylle überlegt, ob sie mit dem Stillen aufhören soll, weil sie den Alkohol vermisst und die wenigen Zigaretten, die sie raucht, immense Schuldgefühle auslösen. Das Leben ist viel komplizierter geworden – oder einfacher? Alles dreht sich um das Kind, und alles, was vorher wichtig schien, ist hinter seinen Bedürfnissen zurückgetreten, verschwunden … und manchmal glaubt Sibylle, dass sie sich allmählich auflöst.
»Ich habe geschwiegen wie die Gräber«, sagt Fjodor auf dem Nachhauseweg. Die Nacht ist noch jung und laut im Scheunenviertel, und Anna weicht Betrunkenen aus, deren Köpfe kahl geschoren sind. »Halt die Klappe«, flüstert sie Fjodor zu, der zwar aussieht wie ein fetter Germane, aber nicht so
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