Anna Marx 9: Feuer bitte
und hustet. Das Gespräch nimmt eine interessante Wendung hin zum Absurden. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Dieser Mann bist DU.«
Er ist aufgestanden und legt das Foto auf Annas Schreibtisch. »Ich schwöre dir, das ist David. Wir sind Zwillinge. Eineiig. Schon mal davon gehört? Und was soll das Theater um einen Schnappschuss? Hat er sie umgebracht, oder worum geht es hier, o große Detektivin?«
Anna ist enttäuscht, erleichtert, verwirrt … die Gefühle sind schwer auf einen Punkt zu bringen. Wütend macht sie sein Spott. »Gewissermaßen. Woher sollte ich von einem Zwillingsbruder wissen? Du hast ihn nie erwähnt.«
Liebling seufzt und verlässt den Raum. Das war’s, denkt Anna. Jetzt lässt er mich mit dem Phantomzwilling allein, und ich bleibe auf meinen Fragen sitzen. »Feige Flucht«, ruft sie ihm hinterher, doch er kommt nach zwei Minuten wieder, und seine Hände sind feucht. »Ich weiß nicht, wie du das erträgst. Ich bin zwar kein Fachmann, aber ich habe immerhin einen Schwamm in die Spüle gelegt, der die Tropfen auffängt. Was hat David wieder angestellt?«
Anna sieht ihn an: »Kann es sein, dass dein Bruder als Heiratsschwindler unterwegs ist?« Kann es sein, dass du keinen Bruder hast? Gedanken und Worte bewegen sich im Zickzack, und ihr Gesicht ist ein einziger großer Zweifel.
Liebling stützt sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. Sie sind in Augenhöhe. »Ich weiß es nicht, meine Liebste. Ich habe David vor dreizehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Das war in Paris, nachdem ich ihn aus der Untersuchungshaft geholt hatte. David hatte einen Scheck gefälscht, und ich zahlte die Kaution. Danach verschwand er spurlos, wofür ich ihm sehr dankbar war. Es gibt Menschen, die man nur ertragen kann, wenn sie unendlich weit weg sind. Er ist ein Mistkerl, ein charakterloses, rücksichtsloses Stück Scheiße. Ich hatte gehofft, dass er tot ist. Wie alt ist dieses Foto?«
»Nicht älter als zwei Jahre«, erwidert Anna. So viel Hass in seiner Stimme, denkt sie. Und dass sie mehr hören will von David und seinem Bruder. Liebling sagt, und seine Stimme klingt wieder sanft: »Ich würde dich gern küssen. War das Foto der Anlass für deinen Liebesentzug? Ich habe mich heute in die erste Maschine gesetzt, weil ich unklare Verhältnisse nicht mag. Wodurch ich in den Genuss kam, dich in deinem karierten Bademantel zu bewundern. Antik?«
Sie mag seinen Spott, aber nicht jetzt. Und dreht sich nach dem Kuss, für den er sich halb auf den Schreibtisch legen musste, sanft weg. »Das Erbstück eines Verflossenen. Er war nur zu faul, ihn abzuholen, nachdem wir Schluss gemacht hatten. Wenn du mir mehr über David erzählst, revanchiere ich mich mit Höhepunkten meiner Vergangenheit. Wie geht es dir überhaupt … was machen die Geschäfte?«
Liebling verabscheut ihren sachlichen Ton. Anna hat sich verändert in den zwei Wochen, in denen er sie nicht gesehen hat. Weil sie es so wollte. Weil es ein Foto gibt, auf dem sie ihn zu erkennen glaubte. Ein Heiratsschwindler: Sie muss vollkommen verrückt geworden sein. Und ist er aus Brüssel gekommen, um über Familiengeschichten zu reden? Er hat David begraben, versteht sie das nicht? Liebling wälzt seinen Leib vom Schreibtisch, fegt dabei ein paar Papiere zu Boden, hebt sie auf und wirft sie vor Anna hin. »Mein Leben missfällt mir, und ich will es ändern. Ich bin gekommen, um dich auf eine schöne Insel einzuladen. Wir könnten morgen fliegen: Sonne, Strand, Palmen, Meer. Mochitos, Moskitos und viel Sex. Wir bleiben, solange du willst, meinetwegen für immer.«
Das wär’s doch, denkt Anna, nachdem sie den Schock des Überfalls überwunden hat: Liebling, Marx und die Insel. Keine Sorgen mehr. Moskitosex. Hängemattenorgien. Mochitokater. Sie sieht ihm in die Augen und fragt sich, ob er das ernst meint. Er blinzelt nicht. Sein Gesicht ist wie immer in Bewegung zwischen Spott und Zuneigung. Der Bauch ist ohne das verhüllende Jackett nicht zu übersehen. Die einzigen Muskeln, die Liebling je trainierte, waren seine Lachmuskeln. O ja, sie mag diesen Mann. Aber auf einer Insel? Für immer?
»Das war ein konstruktiver Vorschlag, Anna. Du solltest jetzt irgendetwas sagen.«
»Ich würde wollen, wenn ich könnte«, murmelt sie. Schämt sich für diesen Satz, aber jetzt ist es zu spät.
»Also nein.«
Warum fürchtet sie sich plötzlich vor ihm? So steinern, sein Gesicht, und die Stimme klingt wie gefrorener Schnee. Anna streicht mit den Fingerspitzen
Weitere Kostenlose Bücher