Anna Marx 9: Feuer bitte
Seele.
Anna sieht in den Himmel, der voller Wolkenfetzen ist. Er ist zu weit entfernt und sieht abweisend aus. An Gott zu glauben schien ihr schon als Kind sehr schwierig. Menschen als sein Ebenbild zu sehen ist noch anspruchsvoller. Was soll sie mit Sibylles Geständnis anfangen? Ihr Absolution erteilen? Sie mit Entsetzen strafen? Freundschaft kommt der Liebe sehr nahe, und Liebe verzeiht – fast – alles. Anna greift nach zitternden Händen: »Glauben ist nicht wissen. Wahrscheinlich redest du dir das ein, weil du in dem Wahn lebst, eine schlechte Mutter zu sein.«
Ihre Stimme ist brüchig vor Schlaflosigkeit und Kummer. »Aber ich habe daran gedacht, verstehst du? Als ich ihn wickelte und er plärrte und mir ins Gesicht pinkelte, da habe ich daran gedacht, wie schön mein Leben war, als es ihn noch nicht gab.«
Es war nicht immer schön, denkt Anna. Es war gierig und atemlos und ziemlich oberflächlich, wenn man es auf die Sinnwaage legt. Einsam, trotz oder vielleicht wegen der vielen Männer. Jetzt muss sie, verdammt noch mal, mit diesem kleinen Mann fertig werden. »Aber du hast nicht wirklich daran gedacht, ihn von der Kommode zu stoßen.« Kein Fragezeichen am Ende, und Annas Blick fleht um Zustimmung.
Sibylle schlägt die Augen nieder. »Nicht direkt, ich meine, ich weiß es nicht mehr. Nur, dass das Telefon klingelte und ich eine Bewegung machte – und da ist er runtergefallen.«
»So was kommt vor«, sagt Anna. Es ist ein Satz von großer Idiotie. Dass Sibylle sie fast dankbar ansieht, macht ihn nicht besser. »Und außerdem ist er unverletzt bis auf die paar Schrammen. Also hör auf, dich zu quälen. Es bringt nichts, und es ändert nichts. Wenn er aufwacht, nimm ihn mit nach Hause – und ich organisiere eine Babysittertruppe. Dann gehst du zum Friseur und in den Schönheitssalon. Da kann man prima schlafen.«
»Der Arzt hat mir komische Fragen gestellt.«
»Das müssen sie tun.« Anna, die Verdrängungskünstlerin, würde der Freundin gern von ihrem Talent etwas abgeben. Obwohl es nicht immer funktioniert. Das Mauz-Liebling-Bild ist allgegenwärtig, selbst jetzt. »Aber du hast ihm doch nicht diesen Blödsinn erzählt, oder?«
»Natürlich nicht.« Sibylle lauscht wieder, als ob sie Weinen bis hierher hören könnte. Doch ihre Stimme klingt fester: »Komm, lass uns zurückgehen. Es geht mir schon besser. Und … danke, dass du so schnell gekommen bist. Ohne meine Freunde wäre ich verloren.«
Sie hakt sich unter, und Anna fühlt sich besser. Es ist leichter, anderen zu helfen, als sich selbst. Sie muss Distanz finden, vor allem zu Martin Liebling. Damit sie ihn fragen kann, ohne vor seiner Antwort zu zittern. Wenn Liebe und Vertrauen zusammengehören, dann fehlt etwas in dieser Beziehung. Die Liebe.
Sibylle kauft im Krankenhausshop einen Plüschbären, der viel zu groß ist. Die Schuld ist klein, daran will sie jetzt glauben. Sie hat Anna die Wahrheit gesagt: Sie weiß nicht, was geschehen ist. Vielleicht ist sie für einen Augenblick eingeschlafen, im Stehen. Dann spürte sie den Urin im Gesicht, und das Telefon klingelte. Sie erschrak, und sie war wütend. Jonathan schrie lauthals, und sie griff nach den Tüchern neben dem Tisch … er strampelte … vielleicht hat sie ihn berührt, ungeschickt angefasst … es fehlen Sekunden … und das Nächste, das sie weiß, ist, dass er am Boden lag und noch lauter brüllte … und dass sie ihn vorsichtig in die Arme nahm und anflehte, am Leben zu bleiben. Ihn in eine Decke wickelte, während sie aus der Wohnung rannte, zum nächsten Taxistand … ins Krankenhaus … und die ganze Fahrt über schrie er, und sie dachte, dass dies ein Zeichen des Himmels ist, dass er noch lebt … und sie betete … und der Taxifahrer fluchte auf Türkisch, weil alle Ampeln auf Rot sprangen …
Sie hat immer noch ihre Hausschuhe an. Sie ist noch einmal davongekommen. Anna hat Recht: Sie kann gar nicht in Absicht gehandelt haben, weil sie Jonathan liebt wie niemanden sonst auf der Welt. Sibylle sieht auf die Wahnsinnsstilettos, die neben ihr auf das Linoleum klacken. »Wie kannst du nur in diesen Schuhen gehen?«
»Kann ich das? Ich warte darauf, dass ich mir den Knöchel breche und von einem hübschen Arzt versorgt werde. Dann bin ich von Eva Mauz verschont – und von Liebling auch – und muss mir um nichts mehr Sorgen machen.«
Die Sorgen ihrer Freunde, denkt Sibylle erschrocken, hat sie seit vielen Wochen nicht mehr wahrgenommen. Ihre Welt ist so klein geworden,
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