Anna Marx 9: Feuer bitte
wissen.«
Liebling beißt in das fette Blätterteiggebäck und kaut lange, bevor er antwortet. Anna beugt sich nach vorne. Ihre Bluse ist schön, doch sie sollte den obersten Knopf schließen. Er hasst Reisen in die Vergangenheit, doch sie wird nicht aufgeben, ehe er sie ein Stück mitnimmt. »David und ich, das war die klassische Familientragödie. Wir waren ein starkes Team, als wir klein waren, obwohl … so sicher bin ich mir da auch nicht mehr. Vermutlich habe ich alles Hässliche verdrängt. Der Bruch kam mit zwölf, dreizehn: Mein Bruder war einfach … er zerstörte gerne. Dinge, Menschen … es machte ihm Spaß, und es steckten weder Plan noch Sinn dahinter. Für einen Lacher hat er jede und jeden verraten … auch mich, und du kannst dir vorstellen, dass es bei uns Zwillingen unzählige Situationen gab, in denen er mich kompromittierte, zum Schuldigen abstempelte … mich geradezu in Todessehnsüchte trieb. Unsere Großmutter war mit unserer Erziehung völlig überfordert, und David flog aus so ziemlich jeder Schule, in der sie ihn untergebracht hatte. Das hatte übrigens den Vorteil, dass wir uns später nur noch in den Ferien sahen. Zuletzt war er auf einer obskuren Privatschule, die ihn irgendwie durchs Abitur brachte.«
Anna schiebt erst einmal jeden Zweifel an seiner Geschichte zur Seite. »Was war mit euren Eltern?«
»Sie starben, als wir klein waren. Stürzten bei einem ihrer Versuche ab, durch Kunstfliegen unsterblich zu werden. Schau mich nicht so ungläubig an – man kann sich seine Familie nicht aussuchen.«
Klingt Wahrheit immer so unwahrscheinlich? Anna konzentriert sich auf den Zwillingsbruder: »War beziehungsweise ist David ein Frauentyp?«
Und wie, denkt Liebling, und aus dem Höllenteil seiner Erinnerungen tauchen all die Frauen auf, die er ihm gestohlen hat. Die Zwillingsnummer, und wie sehr sich sein Bruder darüber amüsierte. »Gewiss, und seine Affären waren stets kurzlebig. Er langweilte sich ungemein schnell. Leben auf der Rasierklinge, und nur nichts auslassen: Partys, Frauen, Drogen … natürlich hat er das Erbteil unserer Eltern ziemlich schnell durchgebracht. Berufswunsch: Rennfahrer. Aber er hat alle Risten zu Schrott gefahren, daraus wurde also auch nichts.« Liebling greift nach Annas Hand und lächelt sie an: »Immerhin war er ein besserer Fahrer als du. Hab ich dir erzählt, dass es auf unserer Insel keine Autos gibt?«
Es wird nie unsere Insel sein, denkt Anna. Warum nicht?
Weil sie nicht weggehen kann aus ihrem Leben. Weil es Sibylle gibt, den Gummibaum und Eva Mauz. Den Italiener mit den besten Spaghetti, nur zwei Ecken weiter. Wenn Trägheit ein Feind des Glücks ist, wie Liebling sagt, dann war sie wohl immer auf der falschen Spur. Kein Schiff wird mehr kommen. Kein Schwan.
Und die Marx steht am Ufer und ist nicht einmal unglücklich darüber. Das ist ebenso erstaunlich wie verstörend. Hat sie sich all die Zeit nur eingeredet, in diesen Mann verliebt zu sein? Weil er da war und sich anbot? Er spreizt den kleinen Finger ab, wenn er die Kaffeetasse zum Mund führt, das sieht albern aus. Und er hasst einen Bruder, der ihm aufs Haar gleicht. Äußerlich. Als ob es ein und dieselbe Person wäre. Jekyll and Hyde. Und an diesem Punkt schlägt Annas Phantasie Purzelbäume …
»Anna?« Liebling gräbt einen Fingernagel in ihren Unterarm. »Hörst du mir zu?«
»Keine Autos.« Sie sieht ihn an, seine Augen flehen tatsächlich, und sie liebt ihn in diesem Augenblick. Davor nicht, und vielleicht niemals mehr danach. Das Gefühl ist so stark, dass sie zittert, nur nach innen. Sie wird es ihm nicht sagen. Weil es keine Worte gibt für das Empfinden, dass in allem Richtigen das Falsche überwiegt. Anna weiß nur, dass – richtig oder falsch – zu vieles gegen ihn spricht.
Er vermag nicht zu deuten, was Anna denkt. Liebling studiert ihr Gesicht und kommt zu dem Schluss, dass sein Vorschlag sie verstört hat. Ein Überfall auf ihre Existenz: David hat es mit ihm genauso gemacht, und nichts ist vergessen oder verziehen. Anna muss nicht alles wissen, nur so viel: »David war mein teuflisches Alter Ego, so sehe ich das heute. Er hat mich in die Rolle des guten Verlierers gedrängt, und ich glaube nicht, dass ich sie jemals mochte. In allem besser zu sein als ich, das war sein Motto, und es gab Augenblicke, da hoffte ich inständig, dass er bei einem seiner riskanten Manöver abstürzt. Fallschirmspringen, das war sein Ding für eine Weile, aber er hat bei allem, was er
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