Anna Marx 9: Feuer bitte
werden. Nach der Zigarettenpackung auf dem Schreibtisch greifen, denn es muss etwas geben, woran sie sich festhalten kann. Der Telefonhörer. Sie wählt die Notrufnummer und sagt mit klarer Stimme, dass ein Toter in ihrer Wohnung sei. Nennt Namen und Adresse, wiederholt die Ansage und legt dann den Hörer vorsichtig auf die Gabel. Ein wenig Blut ist an ihrer Hand, sie hat seine Knöchel berührt. Sie sind erstaunlich zart für einen kräftigen Mann, diese Knöchel, das ist ihr vorher nie aufgefallen. Waren. Martin Liebling ist nur noch ein Körper. Eine Erinnerung. Ein Schmerz.
Sie setzt sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und raucht in langsamen Zügen. Sie wartet und sieht auf die Wand, auf das Filmposter mit Humphrey Bogart alias Philip Marlowe. The Big Sleep. Sie hat es rahmen lassen. Der passende Wandschmuck für eine Detektivin, die sich originäre Kunst nicht leisten kann. So dachte sie damals. Sie wird das Poster abhängen, später. Ein weißer Fleck auf der Wand ist nicht das Schlimmste, das ihr passieren konnte. Die Uhr auf der Konsole zeigt elf Uhr siebenunddreißig an. Sie tickt sehr laut, im Duett mit den Wassertropfen, die in die Spüle fallen. Anna hat Kaffee gekocht, bevor sie ging, und dabei den Schwamm verschoben, den Martin präzise unter den Hahn platziert hatte. Sie wollte ihn noch zurücklegen, vergaß es dann aber. Sie wird den Ermittlern Kaffee anbieten und wahrheitsgemäß antworten, obwohl man das gar nicht muss bei der Polizei. Nur Staatsanwälte oder Richter darf man nicht ungestraft belügen. Sie könnte auch schweigen oder einen Anwalt anrufen. Wozu, wenn sie unschuldig ist? Unschuldig im Sinne der Anklage. Sie hat ein Alibi. Sie ist zum Bäcker gegangen und an den Zeitungskiosk. Hat die »Berliner Zeitung« gekauft und war noch kurz im »Mondscheintarif«, wo sie mit Sibylle sprach. Es gibt viele Zeugen. Kann ja mal vorkommen, dass ein Toter in der Wohnung liegt …
Anna beginnt ein ruinöses Lachen, das erst in Schluchzen und dann in Schluckauf erstickt. Ihre Mutter sagte immer, dass es eines Schreckmoments bedürfe, um den Zwerchfellkrampf zu lösen. Nun, was könnte jetzt noch kommen? Sie bringt es nicht fertig, auf den Boden zu sehen. Steht auf und öffnet das Fenster. Der Himmel ist wolkenlos und von blendendem Blau. Ein guter Tag, um zu sterben. Es könnte regnen, stürmen, hageln, schneien. Ein grauer Tag könnte es sein, von nasskalter Trauer umwoben. Anna hört die Polizeisirene, doch sie fahren vorbei. Fahren sie mit Blaulicht zu einem Toten? Keine Ahnung, wie lange sie schon wartet. Es könnten Jahre sein. Wie wenig sie weiß. Und wie viel sie immer weggedacht hat. Alles, was endgültig sein könnte.
»Spielen Sie Baseball?«
Anna sieht die Kommissarin an, die am Kühlschrank lehnt. Sie hat die Arme verschränkt und betrachtet Anna, als sei diese ein Insekt unter Glas. Ein großes, vielleicht gefährliches Tier, das jetzt unter Beobachtung steht. Die Kommissarin heißt Wanda Kroll, und Anna war erleichtert, dass sie eine Frau geschickt hatten. Wanda ist klein und zierlich und hat die Stimme eines kleinen Mädchens.
Anna raucht. Eine Zigarette nach der anderen, die Küche gleicht bereits einer Räucherkammer, und die Kommissarinnenaugen tränen, also öffnet Anna das Fenster zum Hinterhof.
Sie atmet tief ein und dreht sich dann um. »Nein, tue ich nicht. Ich hasse Sport in jeder Form. Ich habe den Schläger auf dem Flohmarkt gekauft vor ein paar Monaten, es war im Januar, glaube ich. Weil ich dachte, dass ich in einem ziemlich gefährlichen Viertel lebe. Der Schläger stand im Flur neben der Tür. Griffbereit sozusagen.«
»Hatte der Kauf mit Johannes Täufer zu tun?«
Wanda Kroll lächelt Anna verständnisvoll an. Traue keiner unter dreißig. Obwohl sie vermutlich älter ist, sie sieht bloß aus wie ein Teenager. Anna nickt. Sie hat einen Bullen in den Unterleib geschossen, sie wissen das natürlich schon. Schließlich ist sie die Hauptzeugin – oder Hauptverdächtige. Es war Notwehr damals, und der Typ war ein Mörder. Anna kann überhaupt nicht schießen, es war Rafaels Waffe, die sie zufällig in der Handtasche hatte. Andernfalls wäre sie vermutlich längst tot, von Johannes Täufer beseitigt, und alles andere wäre nie geschehen. Eine interessante Hypothese: Wäre Liebling dann noch am Leben?
»Täufer hat lebenslänglich bekommen«, sagt die Kommissarin. »Die Richter schätzen es nicht, wenn der Angeklagte keine Reue zeigt.«
Anna bereut vieles: »Ich
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