Anna Marx 9: Feuer bitte
werden. Schwarze Löcher, in denen Handtaschen verschwinden und wieder auftauchen, piepsende Türen, gläserne Mauern und Plastikstühle, blecherne Ansagen, gerötete Augen: Reisen in modernen Zeiten, und Anna verflucht die Hitze und die von Hektik verbrauchte Luft. Sie hätte den Regenmantel besser zu Hause gelassen, und ihre Schuhe sind für Wanderschaft ungeeignet. Sie wird es nie lernen, alles richtig zu machen.
Hört sie Handschellen klicken? Wanda Krolls Mahnung, in der Stadt zu bleiben, ist nicht vergessen. Überall Rauchverbot, na und? Die Heroine lutscht an einem zuckerfreien Bonbon und sieht dem Sicherheitsbeamten in die Augen. Er soll nicht denken, dass sie Angst hat, verhaftet zu werden. Allenfalls davor, abzustürzen auf dem Weg von Berlin nach Brüssel. Flugangst, Höhenangst: Die Summe ihrer Ängste ergibt eine Formel, die keiner lernen möchte. Relativ jung ist die Furcht, der Gier nachzugeben. Früher hat sie vor Flügen stets gequalmt wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Auch hier und jetzt möchte sie ein Feuer entzünden und Gift einatmen. Ihr Körper fühlt sich an wie ein leeres Gefäß. Er braucht Nahrung, Nikotin, den Alkohol des Vergessens, und nichts von alledem gibt sie ihm. Der Tag bestand aus Knäckebrot und grünem Tee, ein verabscheuungswürdiges Getränk. Anna wird immer hungrig sein: nach dem Leben, das sein könnte, wenn sie nichts auslässt. Warum nur ist Völlerei auch kein reines Vergnügen, und wo liegt die glückliche Balance zwischen beiden Lebensformen? Im Niemandsland der Hoffnungen, sie kennt die Antwort.
Anna hat Kopfschmerzen, das hatte sie früher nie. Höchstens einen Kater, und da wusste sie ja, wem sie das zu verdanken hatte. Ein Nerv oberhalb ihres rechten Auges fühlt sich an wie ein Taschenmesser. Das letzte Mal, als sie mit der Welt in Einklang war, aß sie mit Wanda Kroll Mohnkuchen.
Die in der Sonne glitzernden Flugmaschinen sind die Verheißung am Ende des Weges. Das Leben besteht aus Warten. Und wenn man nur lange genug gewartet hat, darf man sterben. Gott, ist sie übler Laune. Alicia hat so lange auf Anna eingeredet, bis diese schließlich nachgab. Das große Nein wurde zum kleinen Ja. Weil Alicia, die Anna zu Hause nochmals anrief, darauf bestand, dass sie Martin Liebling gesehen habe. Im Büro, und wer sonst außer ihr habe die Schlüssel, nachdem Bruno Laurenz tot sei?
»Seine Ehefrau«, sagte Anna, weil ihr immer das Naheliegende einfällt.
»Und sie hat sich als Martin verkleidet? Ich hab ihn genau gesehen, als ich aus dem Lift stieg. Seinen Rücken, und wie er das Büro abschloss. Ich kenne doch Martins Rücken. Als ich ihn beim Namen rief, ist er schnell weg, über die Treppe. Ich habe noch versucht, ihm nachzulaufen, aber er war zu schnell.«
»Und der Tote in meiner Wohnung?« Anna versuchte Alicia davon zu überzeugen, dass sie sich getäuscht hat. Doch Alicia beharrte auf ihrer Wahrnehmung, begann schließlich mit Anna zu streiten und legte dann auf. Rief nochmals an und beschwor Anna, nach Brüssel zu kommen. Die belgische Polizei, die könne man vergessen, und außerdem würde sie Martin nie in den Rücken fallen.
… oder ihm mit dem Baseballschläger eins überziehen, dachte Anna und schwieg. Alicias Hysterie brauchte keine zusätzliche Nahrung. Sie sagte also dreimal Nein, dann vielleicht und … jetzt sitzt sie auf einem Plastikstuhl und starrt in die Zeitung, die voll des großen Mordens ist. Im weiten Umkreis ist sie die Einzige, die nicht ein Handy ans Ohr hält. Die Zigarettenreklame – kann sie nicht aufhören, daran zu denken? Anna strahlt schlechte Laune aus und fühlt sich von der Menge belästigt. Die Leute reden zu viel in der Öffentlichkeit seit der Erfindung des mobilen Telefons. Sie befehlen, delegieren, bitten, schmeicheln, gurren, plappern. Der gläserne Kasten ist erfüllt von ihren Stimmen, und jede ist durchdrungen von ihrer Bedeutung auf diesem Planeten. Und nun fliegt sie auch noch zu der Frau, mit der sie sich fast geprügelt hätte.
Alicia, denkt Anna, will einfach nicht glauben, dass Martin tot ist, und ignoriert die Tatsache, dass es einen gibt, der ihm gleicht wie ein Ei dem anderen. Zwillinge sind ein Witz der Natur, eine Abnormität, wie Martin einmal sagte. Es dürfe einen Menschen nicht zweimal geben, und er habe in jungen Jahren fast nie in den Spiegel gesehen. Als er vierzehn war, schickte ihn die Großmutter zum Kinderpsychologen. Und David nannte ihn fortan »mein verrückter Doppelgänger«. Es war
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