Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
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Tamara hebt die Hand und lacht. »Ich glaube nicht, dass ein Hausmeister das arrangiert hat.«
»Was arrangiert?«
Sie kehrt mir den Rücken zu und öffnet die Haustür. »Dass Averys Weinberg in Frankreich deinen Eltern überschrieben wird«, antwortet sie. »Avery ist sehr zornig deswegen.«
Kapitel 61
Tamara geht mir voran ins Haus. Meine Füße bleiben stehen wie angewurzelt. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass das Weingut, das meine Eltern »geerbt« haben, Averys Weinberg sein könnte. Bis gerade eben hatte ich sogar ganz vergessen, dass er einen besaß. Wie zum Teufel ist es möglich, dass sein Weingut bei meinen Eltern gelandet ist? Wer hätte so etwas arrangieren können?
Sobald ich mir die Frage stellte, ist die Antwort auch schon da. Williams. Er muss es gewesen sein. Er war jahrhundertelang mit Avery befreundet und wusste alles über ihn. Er hat sich um das Erbe gekümmert, weil ich nichts damit zu tun haben will. Er wollte mich schon lange von allem menschlichen Einfluss lösen und muss das Ganze schon vor Monaten eingefädelt haben, ehe er von Sandra wusste. Es hat sicher eine Weile gedauert, Abstammungsurkunden zu fälschen und die Grundlage für die »Erbschaft« zu schaffen.
Tamara bleibt stehen, als sie merkt, dass ich ihr nicht folge, dreht sich um und mustert mich. »Du hast das nicht gewusst? Wirklich nicht?« Ich bin zu betroffen, um mehr als ein Kopfschütteln zustande zu bringen. »Wer war es dann?« Sie hält inne, und dann reißt sie überrascht die Augen auf. »Williams.«
Jetzt schaue ich sie ebenfalls überrascht an. »Du kennst Williams?«
»Ja.« Mehr sagt sie nicht. Dann schlägt sie vor: »Wir sollten zu Sandra gehen.«
Sie setzt sich in Bewegung, und ich raffe mich auf und folge ihr. Mein Verstand versucht immer noch, Williams’ Verrat in seinem gesamten Ausmaß zu begreifen. Kein Wunder, dass er mich im Glory’s gesucht hat. Er hat nichts gesagt, was mich hätte warnen können, aber er wusste, dass Sandra bald herausfinden würde, was er getan hatte. Wusste er da auch schon, dass Avery in ihrem Körper zurückgekehrt ist? Das bezweifle ich, denn sonst wäre er nicht so ruhig gewesen. Er hätte sich denken können, dass er als Nächster dran sein würde, sobald Avery mit mir fertig ist.
Er ist ja auch beinahe damit durchgekommen, nicht? Meine Familie packt möglicherweise gerade jetzt für eine Zukunft, die es nie geben wird. Eine Zukunft, die eine Lüge ist. Und ich habe mitgespielt. Ich war argwöhnisch, aber ich habe die Erbschaft nie mit Avery in Verbindung gebracht.
Sandras Auftauchen muss Williams’ Pläne ganz schön durcheinandergewirbelt haben. Hat er beschlossen, den Schaden zu begrenzen? Mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen und zu hoffen, dass seine Beteiligung an dem Betrug unbemerkt bleibt?
Tamara hat das Foyer durchquert, doch statt ins Wohnzimmer zu gehen, steigt sie die Treppe hinauf. Mir wird klar, dass ich mich besser auf die Gegenwart konzentrieren muss, um nicht in Gedanken versunken von einer Werwölfin überrumpelt zu werden, die mich des Betrugs verdächtigt.
Sandra (oder Avery) wusste schon die ganze Zeit über, was ich gerade erst erfahren habe, aber das werden sie mir wohl kaum glauben. Das würde ich ja selbst nicht tun.
Ein weiterer Schock trifft mich, als ich begreife, wohin Tamara mich führt. Averys Schlafzimmer. Scheiße. In seinem Wohnzimmer zu sein, war schon schlimm genug. Ein Wirbelsturm von Emotionen, sämtlich negativ und zu stark, als dass ich mich rational damit auseinandersetzen könnte, ruft die vorhersehbare Reaktion hervor.
Die Vampirin tritt zum Vorschein.
Tamara geht immer noch vor mir her. Ihr eigener animalischer Instinkt lässt sie innehalten und sich umdrehen. Sie spürt die Veränderung. »Wir wissen, wie schwer das für dich ist. Hier zu sein. Wir wollen dir nichts Böses. Wir brauchen deine Hilfe.«
Sie steht an der Tür zum Schlafzimmer. Seinem Schlafzimmer. Ich zittere am ganzen Leib. Wenn ich in dieses Zimmer gehe, wenn ich Sandra gegenübertrete in dem Wissen, dass sie ein Gefäß für Avery ist – ich weiß nicht, wie ich dann reagieren werde.
Tamara beobachtet mich. Sie sieht mich zittern und liest mir den Konflikt von den Augen ab. »Avery schläft«, sagt sie. »Du wirst nur mit Sandra sprechen.« Woher kann sie das wissen? Ich bringe keinen anderen Laut hervor als ein Knurren. Es kommt aus der dunklen, tiefsten Grube meiner Seele und ist Frage und Warnung zugleich.
Wieder scheint sie
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