Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
er.
Wenn er erfolgreich ist, wird das Wolfsfell sein Talisman. Er wird in die Gemeinschaft der Werwölfe aufgenommen und in einem Rudel initiiert. Das Rudel ist fortan seine Familie. Er darf eine Gefährtin wählen, aber nur innerhalb der Familie.
Wenn es nicht genug Weibchen im Rudel gibt, muss er sich das Recht verdienen, ein fremdes Weibchen hereinzuholen. Weibliche Werwölfe sind im Rudel völlig unterworfen. Paare finden sich fürs ganze Leben zusammen. Werwölfe pflanzen sich nur durch den Austausch von Blut fort.
Wenn der Werwolf gebissen und initiiert wurde, muss er in seinem restlichen Leben zwei weitere Menschen beißen, um den Kreislauf des Lebens zu schließen. Diese Regel wird streng befolgt – nur zwei. Mit Abtrünnigen, die diesem Gesetz nicht gehorchen, wird sehr hart verfahren. (Der Text nennt keine Einzelheiten, aber da ich schon mit abtrünnigen Vampiren zu tun hatte, kann ich mir vorstellen, was das heißt – Vernichtung.) Das Kapitel endet, und ich fühle mich ganz wirr im Kopf, was teils von der Anstrengung kommt, den schwierigen Text zu entziffern, und teils daher, dass der Inhalt allem widerspricht, was ich bisher über Werwölfe wusste.
Im selben Moment, da ich das denke, bringt mich die Absurdität zum Lachen. Dasselbe könnte man auch über Vampire sagen. Bis ich selbst einer wurde, war meine Perspektive auf dieses Thema eine völlig andere. Hatte sich nicht fast alles, was ich über Vampire geglaubt hatte, als falsch herausgestellt? Warum sollten die beliebten Mythen über Werwölfe dann weniger falsch sein?
Und doch ist da eine schreiende Unstimmigkeit.
Sandra ist die Anführerin eines Werwolfrudels. Sie ist weiblich, definitiv, unzweifelhaft weiblich. Danach zu urteilen, was ich neulich Abend gesehen habe, ist ihr Rudel zu neunzig Prozent weiblich. Es waren an dem Abend nur zwei, drei Männer in Culebras Bar. Keine besonders bemerkenswerten Männer offenbar, denn ich kann mich nicht erinnern, wie sie aussahen. Ich frage mich, wozu sie da sind? Als Sexspielzeuge? Für schwere Arbeiten? Oder als Motorradmechaniker?
Hmmm.
Kapitel drei lockt, und ich will gerade weiterlesen, als mich das Piepen des Faxgeräts ablenkt.
Glorias Anwalt?
Ich gehe nach drinnen und sehe zu, wie das Gerät Seite um Seite grießiger, von Hand ausgefüllter Formulare und Notizen ausspuckt. Die erste Seite ist eine kurze Nachricht mit dem Briefkopf der Anwaltskanzlei. Da steht, ich soll ihnen alles berichten, was ich in Erfahrung bringe – ob es nun zu Glorias Vorteil ist oder nicht. Außerdem soll ich meine Rechnungen an die Kanzlei richten und nicht an Gloria.
Kein Problem. Mir ist egal, wer die Schecks ausstellt, solange sie nur nicht platzen.
Ich sammle die Seiten ein und nehme sie mit hinaus auf die Terrasse. Freys Buch lege ich vorerst beiseite.
Es dauert nicht lange, den Stapel durchzusehen. Da ist der Polizeibericht vom Tatort. Harris hat den Fall erwischt. Der Notruf von Mrs. O’Sullivan kam um 21:10 Uhr.
Harris’ Notizen sind präzise, detailliert und objektiv. Am Tatort wurde keine Waffe gefunden. Der Gerichtsmediziner legte den Tatzeitpunkt vorläufig auf den Zeitraum zwischen zwei und sechs Uhr Nachmittags fest. O’Sullivan wurde mit einer Kleinkaliberwaffe getötet, ein Schuss in den Hinterkopf. Keine Hinweise darauf, dass der Täter sich gewaltsam Zutritt verschafft hätte. Keine Anzeichen eines Kampfes. Ein Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch war das Einzige, das offensichtlich durchwühlt worden war.
Die Vernehmung von Mrs. O’Sullivan ist viel interessanter. Sie hat Gloria sofort als Verdächtige genannt. Hat von der Affäre gesprochen und angedeutet, dass auch geschäftlich nicht alles so war, wie es sein sollte. Sie erklärte, sie wisse nichts Genaueres, aber ihr Mann hätte erwähnt, dass er einen Wirtschaftsprüfer engagiert hatte, der sich die Buchführung des Restaurants vornehmen sollte.
Sie nehme an, dass der Mann etwas gefunden hatte, denn seit ein paar Tagen sei Rory furchtbar wütend auf Gloria gewesen und hätte mehrmals versucht, sie zu erreichen.
Das nächste Protokoll ist die Vernehmung von O’Sullivans Sohn Jason. Vierzehn Jahre alt. Besucht die Loyola Prep School und ist über die Ferien zu Hause. Er und seine Stiefmutter hatten den Nachmittag mit Einkaufen verbracht und waren dann zum Abendessen gegangen. Er sagte aus, er wüsste nicht, wer seinen Vater hätte umbringen wollen. Er war bei seiner Stiefmutter, als sie die Leiche fand.
Sonst war niemand im
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