Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin

vorstellen. Da erfährt man, dass die Freundin einen betrügt und eine Mörderin ist, alles auf einmal. Das würde mir auch den Abend verderben.« Im nächsten Moment ist die Belustigung aus seinem Gesicht verschwunden. »Sofern man davon ausgeht, dass er nicht schon vorher von der Affäre wusste. Falls ich herausfinde, dass er davon wusste, könnte Mr. Ryan größere Probleme bekommen als ein gebrochenes Herz.«
    Er wendet sich ab und tritt zu dem Kollegen in Zivil, der neben einem Auto wartet. Ich schaue zu, wie die Polizisten abfahren. Zumindest hat er mich nicht unter Druck gesetzt, um etwas über Davids Aufenthaltsort zu erfahren. Er hat mich auch nicht beschuldigt, die Ermittlungen zu behindern. Gloria ist wohl immer noch die Nummer eins in seiner Hitparade.
    Ich schließe Davids Wohnung mit meinem eigenen Schlüssel auf. Es gibt zwei Arten, eine Wohnung auf den Kopf zu stellen – die ordentliche Art, bei der nicht allzu offensichtlich wird, wonach man gesucht hat, und die wüste Art, wenn einem das egal ist.
    Harris war es egal. Nicht, dass er Dinge kaputt gemacht oder sich besondere Mühe gegeben hätte, alles durcheinanderzuwerfen, aber Schubladen und Schranktüren wurden offen gelassen, die Kleider im Schrank achtlos zur Seite gequetscht, alles auf Davids Schreibtisch umgeräumt. David, der Ordnungsfanatiker, wird nicht glücklich sein.
    Ich werde hier nicht aufräumen. David hätte da sein und das Ganze überwachen sollen, statt sich wie ein geprügelter Hund davonzuschleichen. Geschieht ihm ganz recht, wenn ihn bei seiner Rückkehr so ein Chaos erwartet. Aber auf dem Weg nach draußen halte ich doch an und hebe die Zeitungen auf, die sich vor der Wohnungstür angesammelt haben. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, die Lieferung aussetzen zu lassen.
    David hat Tageszeitungen aus San Diego und L. A. abonniert, und als ich sie auf den Wohnzimmertisch fallen lasse, springt mir ein Foto auf der Titelseite der Los Angeles Times ins Auge.
    Es springt mir nicht nur ins Auge, es löst dabei auch diesen Erinnerungsblitz aus, auf den ich gewartet habe.
    Rory O’Sullivan mit Ehefrau und Sohn. Jason. Der Junge, den ich mit Gloria vor dem Gerichtsgebäude gesehen habe.
    Kapitel 21
    Jason O’Sullivan. Jetzt ist mir klar, wo ich ihn schon mal gesehen habe. Nicht persönlich, aber in Medienberichten über die Eröffnung des Restaurants. Er hatte seine Eltern an dem Abend begleitet. Ein kurzer Filmbeitrag, in dem die drei aus einer Limousine steigen und an der Tür von Gloria empfangen werden, lief in jeder Nachrichtensendung.
    Wie kam er heute Vormittag dazu, die Frau zu umarmen, die als Mörderin seines Vaters im Verdacht steht?
    Ich greife zum Telefon und rufe im Hotel an. Als ich darum bitte, mit Gloria verbunden zu werden, sagt man mir nur, dass sie Anweisung gegeben hat, sie nicht zu stören. Verdammt. Ich hinterlasse ihr eine Nachricht: »Ruf mich an. Und lass meine Anrufe nie wieder von der Telefonzentrale abwimmeln.«
    Ich knalle den Hörer auf. Wahrscheinlich liegt sie im Koma dank ihrer Beruhigungsmittel. Sie hat auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude klargemacht, dass sie nicht über Jason sprechen will, so dass mir nur ein Mensch bleibt, mit dem ich reden kann.
    Jason selbst.
    David hat zu Hause keinen PC, nur einen Laptop, und der ist nirgends zu sehen, also hat er ihn wohl mitgenommen. Das heißt, ich muss zurück ins Büro.
    David und ich sind Mac-Menschen, an unserem riesigen Eichenschreibtisch stehen sich zwei Macs gegenüber. Ich fahre meinen hoch. Vermutlich ist die Nummer nicht im Telefonbuch eingetragen, aber ich schaue trotzdem online nach.
    Ich behalte recht. Kein Eintrag mit diesem Namen.
    Ich könnte Glorias Anwalt bitten, mir die Nummer zu beschaffen, aber dann müsste ich erklären, warum ich sie haben will. Jason ist minderjährig, und ich habe keine Lust, Glorias Anwalt, Jasons Mutter und die Armee von Anwälten, die zweifellos auf O’Sullivans Gehaltsliste stehen, dabeizuhaben, wenn ich mit ihm spreche. Später ist immer noch Zeit genug, Informationen mit anderen zu teilen.
    Falls sich herausstellt, dass es da etwas zu teilen gibt.
    Ich kenne eine andere Möglichkeit, einen Teenager aufzuspüren.
    Ich logge mich bei MySpace ein. David und ich haben erst vor kurzem einen Account dort angelegt, genau zu diesem Zweck – MySpace ist ein tolles Werkzeug, wenn man jemanden ausfindig machen will. Ich suche nach »Jason O’Sullivan«. Die Suche ergibt vierundneunzig Treffer, inklusive