Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
Zeitschriften, Zeitungen, Sammel - und Fotoalben vollgestopft – der Müll der etwas über dreißig Jahre, bevor sie Mrs. Rory O’Sullivan wurde. Ich sehe gerahmte Bilder von Schönheits wettbewerben, glitzernde Strasskrönchen und Schärpen, die ihren Aufstieg von der Miss El Cajon über Miss San Diego bis zur Miss California nachzeichnen und im Titel der Zweitplazierten im Miss-America-Wettbewerb gipfeln. Das ist die letzte Schärpe. Fotos zeigen sie mit Mr. O’Sullivan, einem der Promi-Juroren bei diesem Wettbewerb. Ihr Leben als Schönheitskönigin endete also mit einer Schärpe für den zweiten Platz und dem dicksten aller möglichen Gewinne.
Ich arbeite mich durch all das Zeug zu einem Schreibtisch durch, der an der Wand steht. Er ist ebenso mit Krempel beladen wie das restliche Zimmer. Obendrauf liegt nichts Offensichtliches, was mich interessieren würde, und alles ist so staubig, dass ich mich frage, ob sie überhaupt je hier hereinkommt.
Ich öffne probeweise die Schubladen. In der mittleren sind nur Bleistifte, Kulis, Büroklammern und gerissene Gummibänder.
Die rechte Schublade ist ein Hängeregister. Der Beschriftung der Reiter nach ist den Mappen wie bez. Rechnungen, Rezepte und Diverses seit 2003 nichts mehr hinzugefügt worden – dem Jahr, in dem sie O’Sullivan kennenlernte. Es gibt keine Akte mit der Aufschrift Privatdetektiv/Überwachung meines untreuen Ehemannes. Schade auch. Das hätte mir das Leben sehr erleichtert.
Auf der linken Seite des Schreibtischs sind zwei Schubladen. Die erste ist leer. Die zweite auch, bis auf eine Kleinigkeit.
Einen Revolver.
Kapitel 44
Ich starre in die Schublade. Vor mir liegt eine kleinkalibrige Schusswaffe. O’Sullivan wurde mit einer kleinkalibrigen Handfeuerwaffe erschossen.
Wenn das hier die Mordwaffe ist, bin ich dann die beste Schnüfflerin der Welt oder nur die mit dem meisten Dusel?
Ich nehme einen Bleistift aus der mittleren Schublade, schiebe den Stift durch den Abzugbügel und hole die Waffe heraus. Es ist ein Minirevolver, Kaliber 22, eine »Frauenwaffe«.
Was soll ich jetzt machen? Die Polizei anrufen? Wie erkläre ich meine Anwesenheit im Haus? Den Revolver liegen lassen und riskieren, dass Mrs. O’Sullivan ihn so schnell wie möglich verschwinden lässt?
Ihn dazulassen, ist nicht die beste Option, aber Selbstschutz ist ein starker Antrieb. Ich will nicht ins Gefängnis. Andererseits – wenn das hier die Tatwaffe ist, halte ich die einzige greifbare Verbindung zu O’Sullivans Mörder in der Hand.
Ich blicke mich in dem kleinen, beengten Raum um. Mir fällt kein geeignetes Versteck für einen Revolver auf. Außer .... Auf dem Boden liegt ein Haufen großer, brauner Briefumschläge. Ich nehme einen und lasse die Waffe hineinrutschen. Dann stopfe ich den Umschlag unter einen Berg überquellender Scrapbooks und Fotoalben an der hinteren Wand.
Nicht übel. Selbst Mrs. O’Sullivan dürfte die neue Kleinigkeit in ihrem Chaos nicht bemerken. Und jetzt?
Meiner Armbanduhr nach ist es zwanzig vor vier. Zeit zu gehen. Rückwärts trete ich durch die Tür.
Ich kann sie nicht wieder absperren. Dass jemand in diesem Zimmer war, wird Mrs. O’Sullivan bemerken, sobald sie die Tür öffnen will.
Es ist so still im Haus, dass meine Nerven kribbeln. Ich habe geschafft, weshalb ich hergekommen bin, sogar mit bemerkenswertem Ergebnis, und meine ganze Aufmerksamkeit sollte jetzt dem Weg nach draußen gelten. Aber das nagende Gefühl, dass das irgendwie zu einfach war, dass ich irgendetwas noch Wichtigeres übersehen haben muss, lässt mich am Kopf der Treppe innehalten und überlegen, was ich noch tun könnte.
Zwei Möglichkeiten bieten sich an. O’Sullivans Büro unten unter die Lupe nehmen. Oder Jasons Zimmer.
Ich wende mich wieder zum Flur um, schließe die Augen und »schmecke« mit meinen übernatürlichen Sinnen die Luft. Heute Morgen hat Jason nach Safeguard-Seife, Redken-Shampoo und CK-One-Deo gerochen. Ich folge dieser Duftspur zur dritten Tür links am Ende des Flurs.
Die Tür ist nicht verschlossen. Als ich eintrete, stehe ich in dem Zimmer, von dem jeder Teenager träumt. Ein LCD-Breitbildfernseher hängt an der Wand gegenüber dem Bett. Der Fernseher, der Computer und sämtliche nur vorstellbaren Abspielgeräte für Musik sind mit einer Bang-&-Olufsen-Anlage verbunden. Es gibt einen Schreibtisch und ein kleines Sofa. Der Tisch ist leer bis auf einen Computermonitor. Kein Bücherregal.
Nichts Persönliches an den Wänden, nur
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