Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
und tieftraurig.
Warren Williams besaß die Fähigkeit, sich in der menschlichen wie in der vampirischen Welt zu bewegen und beiden Seiten ein Freund zu sein. In seiner Eigenschaft als Gesetzeshüter beschützte er die menschliche Gemeinschaft – und das seit zweihundert Jahren. Als Vampir führte er mit viel Einsatz und unermüdlich unsere Wächter an. Wir werden vielleicht nie erfahren, wie er zu Tode gekommen ist. Ja, es stimmt, Anna Strong war kurz vor seinem Ende bei ihm. Mehr kann ich nicht sagen. Es gibt weder Zeugen noch Beweise, die ihre Schuld oder Unschuld beweisen könnten.
Chaels tote Augen blitzen auf. Wie ist es dann möglich, dass sie unangefochten als Auserwählte vor uns steht?
Turnbull wendet sich mir zu . Steht sie nicht. Eine Herausforderung wurde ausgesprochen. Sie ist aufgefordert, ihre Unschuld zu behaupten, wie es das Grimoire vorschreibt. Anna Strong, nimmst du die Herausforderung an?
Meine Gedanken schnellen wie ein Peitschenhieb in seinen Kopf . Bekomme ich denn vorher keine Chance, mich gegen die Vorwürfe zu verteidigen? Ich hatte mit Williams’ Tod nichts zu tun. Er starb durch die Hand eines anderen.
Ist dieser andere ein Vampir?
Ein Hexer.
Hast du dafür Beweise? Zeugen?
Ich schüttele den Kopf. Ich habe denjenigen getötet, der für Williams’ Tod verantwortlich ist. Ich denke an Lance, an seinen Verrat . Es gibt noch einen, der die Wahrheit kennt. Aber ich weiß nicht, wo er ist. Gebt mir Zeit, ihn zu finden.
Turnbull schüttelt den Kopf. Diese Angelegenheit muss am Tag der Wandlung geklärt werden. So steht es geschrieben.
Ich scheiß auf »geschrieben«. Mit geballten Fäusten beuge ich mich zu ihm vor. Ich bin unschuldig.
Dann wirst du den Kampf überleben. So soll es sein.
Ich wusste ja, dass das kommen würde. Ich habe versucht, mich darauf vorzubereiten. Doch die Wirklichkeit erdrückt mich mit der unerwarteten Wucht meiner Angst.
Wegen irgendeines Buches und zweitausend Jahre alten Vampir-Brauchtums könnte ich noch vor Sonnenaufgang tot sein.
Kapitel 45
Ich stehe dreizehn starren Augenpaaren gegenüber, die zweifellos auf meine Reaktion warten. Sie haben meinen Wortwechsel mit Turnbull gehört. Meine Beteuerung kümmert sie nicht. Zum ersten Mal erlauben sie sich einen Gesichtsausdruck, der ein wenig Emotion widerspiegelt. Manche sind nachdenklich, andere gleichgültig. Einige, Chael zum Beispiel, sind begeistert, erregt. Er freut sich auf den Kampf. Er rechnet damit, dass ich verliere.
Er ist der Herausforderer. Ich wende mich ihm zu. Warum?
Ein Lächeln so kalt wie seine Augen . Du hast kein Recht, hier zu sein. Du bist zu neu. Die Führung hätte einem von uns zugestanden. Die Zeit des Vampirs ist gekommen. Du stehst dem, was sein sollte, im Wege.
Er spricht, als hätte ich schon verloren. Und was ist mit dem Grimoire? Der Auserwählten?
Aberglauben. Wir haben schon viel zu lange unter dem menschlichen Joch gelebt. Es ist an der Zeit, unseren rechtmäßigen Platz in der Ordnung der Dinge einzunehmen. Unter den Menschen sind wir Götter, und das müssen sie endlich anerkennen. Es ist an der Zeit, dass alle Welt dies anerkennt.
Ich glaube, jetzt erkenne ich deine Rede wieder. Hast du dir Hitlers Skript ausgeliehen?
Ein Schatten gleitet über seine Züge . Du beweist nur, dass ich recht habe, Anna Strong. Als ich von Avery und Williams erfuhr, wusste ich, dass du nicht an die Macht gelangen darfst. Du stellst menschliches Leben über alles andere. Du ziehst die Menschheit deiner eigenen Art vor. Du bist unwürdig.
Ich blicke mich um, weil ich sehen will, wie die anderen darauf reagieren. Keine Empörung, kein Widerspruch, keine Entrüstung. Die anderen Repräsentanten sind wie Schafe im Bann eines Wolfs. Und warum auch nicht? Was heute geschieht, wird ihrer aller Leben kaum verändern. Wenn ich siege, geht alles seinen gewohnten Gang. Wenn Chael siegt, übernehmen sie auf der ganzen Welt die Herrschaft.
Freys Worte fallen mir wieder ein. Zeig denen, wer du bist. Es ist an der Zeit, die Angst herunterzuschlucken und ihnen zu zeigen, wer ich bin.
Chael wartet so geduldig wie eine Sphinx. Er strahlt Macht aus, die Macht von tausend Jahren. Er ist ruhig und selbstsicher.
Ich erlaube der Bestie hervorzuspringen . Dann lass uns anfangen.
Als er versteht, was ich meine, lacht er auf. Du glaubst, ich wolle gegen dich kämpfen? Ich werde mir die Hände nicht mit deinem wertlosen Leben beschmutzen. Du bekommst einen anderen Gegner.
Er wedelt mit der Hand.
Weitere Kostenlose Bücher