Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
verstehe sie. Es gehört zu den genetischen Besonderheiten eines Vampirs, sich über Sprachbarrieren hinweg mit seinesgleichen verständigen zu können.
Wie bei Frey und seinem Buch. Wenn er doch nur hier wäre. Die Gespräche sind banal. Man unterhält sich über die Reise hierher oder die Immobilienpreise in Südkalifornien. Ebenso gut könnte ich ein Grüppchen Geschäftsführer belauschen, die sich zu einer Sitzung in der Konzernzentrale treffen.
Zur Bibliothek geht es durchs Wohnzimmer. Auch da sind schon Leute, Gäste derjenigen, die mich erwarten. Sie sehen mich vorbeigehen und verstummen. Ziemlich beklommen nähere ich mich den geschlossenen Türflügeln. Dahinter liegt Averys Allerheiligstes und der Ort, an dem ich als Vampirin zum ersten Mal getrunken habe. Die Stimmen, die ich höre, kommen aus diesem Raum.
Ein Türflügel geht auf, ehe ich nach dem Knauf greifen kann. Es ist Judith Williams. Sie trägt ein langes Kleid aus schwarzer Seide, das Haar hat sie zurückgebunden. Heute wirkt sie nicht mehr so selbstzufrieden und zuversichtlich. Vielleicht wurde sie deswegen getadelt, wie die Party neulich Abend ausging. Sie bittet mich mit ausladender Handbewegung herein. »Sie sind bereit.«
»Sie«, nicht »wir«. Ich lächele, als ich an ihr vorbeigehe. Ich weiß nicht recht, was mich erwartet. Noch vor ein paar Tagen galten meine Gedanken einzig David, den ich sicher hier herausholen wollte. Die anwesenden Vampire habe ich kaum beachtet. Aber ich erinnere mich an einen flüchtigen Blick auf Kleider in den verschiedensten Farben und Stilen.
Eine Gestalt in bunten Tüchern, die mich an einen afrikanischen Stammestänzer erinnerte, einen Vampir im arabischen Burnus, ein hochgeschlossenes Gewand aus weißem Leinen an einem Vampir chinesischer Abstammung.
Jetzt hingegen spiegeln die Outfits den Tonfall der Konversation wider – die Oberhäupter der dreizehn Stämme tragen Businesskleidung. Maßgeschneiderte Anzüge und Kostüme von den besten Couturiers der Welt. Ich bin auf einmal verlegen in meiner Jeans. Falls es zu einem Kampf kommen sollte, muss ich etwas anhaben, worin ich mich gut bewegen kann, deshalb habe ich mich dafür entschieden. Ich wollte damit keine Geringschätzung für diesen Anlass ausdrücken. Die Augen, die mich beobachten, scheinen meine Absicht zu erkennen. Die Blicke verurteilen mich nicht.
Die dreizehn haben gestanden, als ich eintrat. Jetzt setzen sie sich um den großen Tisch, der einst Avery gehört hat. Wir sind unter uns, Judith Williams ist nicht wieder mit hereingekommen. Dass ihr nicht der gleiche Status zugestanden wird wie den anderen, dämpft meine Furcht ein wenig.
Nur ein Platz bleibt leer, der Stuhl hinter dem Schreibtisch. Averys Stuhl. Einer der Repräsentanten steht wieder auf und bedeutet mir, dort Platz zu nehmen. Als ich sitze, stellt sich derselbe Vampir mir vor. Er heißt Amardad und kommt aus Persien – der alte Name des Iran. Dann stellt er mir auch die anderen vor, einen nach dem anderen. Jeder steht auf, verneigt sich leicht und legt zur Begrüßung die Hände an die Brust, wie Culebra es vor ein paar Tagen getan hat. Ich höre zu, beobachte sie und öffne meine Gedanken nur, um einen nach dem anderen zur Kenntnis zu nehmen. Dies sind die ältesten Vampire aus aller Welt. Sie tragen exotische Namen wie Alexi, Cheng Li und Dhakwan, Dato, Naruaki und Melisizwe, Bayani und Chael. Namen, die Macht ausstrahlen.
Und weniger exotische Namen wie Miguel und Joshua Turnbull. Der Vampir aus Denver ist der Einzige, der sich den Ansatz eines Lächelns erlaubt. Es sind nur zwei Frauen anwesend: eine wunderschöne Frau von den Karibischen Inseln, deren Name Rani, so wird mir erklärt, »Königin« bedeutet, und Brianna aus Australien.
Die Gesichter zu den Namen sind alterslos und doch uralt. Sie betrachten mich vollkommen ausdruckslos und lassen nicht den Hauch eines Gedankens oder einer Emotion erkennen. Die Geschichte der gesamten Welt könnte sich hinter diesen makellosen, leeren Gesichtern verbergen. Als die Vorstellung beendet ist, übernimmt Joshua Turnbull. Er erhebt sich und neigt den Kopf in meine Richtung. Sein Auftreten mir gegenüber ist wesentlich respektvoller als damals in Denver. Er beginnt zu sprechen, auf telepathischem Wege, damit alle ihn verstehen können.
Dies ist der Rat der Dreizehn. Wie seit Anbeginn sind wir versammelt, um die Auserwählte zu weihen. Wir kommen aus allen Teilen der Welt. Manche von euch haben diese Reise bereits gemacht.
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