Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
und er tut so, als bemerke er mich gar nicht. Das ist jedenfalls noch nie vorgekommen. Meine Betretenheit wird schnell von Wut verdrängt. Ich kehre ihm den Rücken zu und zerre das Kleid an mir hoch.
Lance gibt ein seltsames Räuspern von sich. »Das nenne ich mal einen Koitus interruptus, was?« Er fährt mit dem Zeigefinger über meine Schultern. »Es tut mir wirklich leid, Anna. Wenn wir nach Hause kommen, machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben, okay?«
Irgendetwas hat sich verändert. Er versucht, flapsig darüber hinwegzugehen, doch seine Gedanken sind beunruhigt. Mein Ärger kühlt rasch zu Sorge ab. Ich drehe mich wieder zu ihm um und schlüpfe in die Schuhe.
»War das Stephen?«
Immer noch keine Antwort. Stattdessen streckt er die Hand aus. »Gehen wir.«
Jetzt bin ich wirklich neugierig. Wer könnte so wichtig sein, dass Lance alles (in diesem Fall mich) stehen und liegen lässt und sofort losstürzt? Und warum ist seine Stimmung so plötzlich umgeschlagen?
Kapitel 10
Als wir unterwegs sind, halte ich mich zurück, statt darauf zu beharren, dass Lance mir sagen soll, wer angerufen hat.
Mein Instinkt rät mir, Geduld zu haben, obwohl das nicht gerade zu meinen Stärken gehört. Werde ich eben die Hintertür nehmen, wenn ich vorne herum nicht reinkomme. Ich versuche, mich in seine Gedanken vorzutasten, stoße aber auf eine stahlharte Barriere.
Lance spürt meine Besorgnis und verfällt in den Touristenführer-Modus, als könnte er mich damit ablenken. Auf der Fahrt zum Restaurant plappert er ununterbrochen vor sich hin und macht mich auf alle möglichen Sehenswürdigkeiten aufmerksam. Vielleicht will er sich selbst damit ebenso ablenken wie mich. Jedenfalls funktioniert es, denn als wir auf einen Parkplatz abbiegen, ist er schon ruhiger. Ich nicht.
Ich erinnere mich an das Gespräch mit Adele, und meine Nervosität ist sofort wieder da. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte beharrlicher nachgefragt. Hat Lance ihr irgendetwas gesagt, das sie so in Sorge versetzt hat? Oder hat sie Stephens Reaktion mitbekommen, als er hörte, dass ich Lance zu dieser Party begleiten werde? Ich werfe einen Seitenblick auf Lance und frage mich, ob er meinen Gedanken lauscht. Aber seine Aufmerksamkeit gilt dem Hoteldiener, der herbeieilt, um uns zu empfangen. Sein Geist ist mir verschlossen. Was immer er befürchten mag, er ist fest entschlossen, es für sich zu behalten.
Der Page kommt direkt zur Beifahrerseite des Wagens, aber Lance ist schneller. Er springt aus dem Auto und öffnet mir die Tür, ehe der Hotelangestellte oder ich dazu kommen.
Ausnahmsweise einmal lehne ich diese altmodische ritterliche Geste nicht verächtlich ab. Ich nehme seine Hand und lasse mir von ihm aus dem Wagen helfen. Er beugt sich über meine Hand und küsst sie. Ich komme mir vor wie ein Schulmädchen bei seiner allerersten Verabredung. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich das vielleicht auch. Bisher hatte ich in Beziehungen immer den aggressiveren Part. Es überrascht mich, wie schön es sich anfühlt, jemand anderem die Führung zu überlassen.
Vielleicht ist es das Restaurant selbst, das diese romantische Anwandlung hervorruft. Das Melvyn’s gehört zum Ingleside Inn und liegt ein wenig abseits der Hauptstraße, wie entrückt von der geschäftigen Eile in Palm Springs. Das Anwesen ist ein architektonisches Meisterwerk im spanischen Stil, üppig begrünt. Die Farbenpracht der vielen Blumen wirkt geradezu ausgelassen, und der Duft von Jasmin ist so stark, dass mir der Kopf schwimmt.
Als wir eintreten, begrüßt der Oberkellner Lance wie einen alten Bekannten. Die anderen Gäste der Party sind noch nicht eingetroffen, also schlägt er vor, dass wir an der Bar warten.
Ich werfe Lance einen vielsagenden Blick zu. Wir sind so hastig aufgebrochen, weil du gesagt hast, wir dürften nicht zu spät kommen. Wo bleiben denn die anderen?
Lance zuckt mit den Schultern und drückt meinen Oberarm. Ich mache das wieder gut. Er bestellt Champagner. Jetzt ist er wieder entspannter, sein Lächeln locker und selbstsicher.
Das Melvyn’s ist ein großartiger Ort, um Leute zu beobachten. Die Bar ist dunkel, die Atmosphäre intim, und an den Wänden reihen sich die Fotos der Reichen und Berühmten, die hier schon zu Gast waren. Da hängt sogar eines von Lance, einen Arm um die Schultern eines grauhaarigen Mannes gelegt.
Ich deute auf das Bild und ziehe fragend eine Augenbraue hoch. »Der Besitzer, Mel Haber.«
Ich bin angemessen beeindruckt.
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