Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
er bis dahin so sternhagelvoll sein, dass er es nicht mitbekommt, wenn ich gehe. Er ist schon beim dritten Glas.
Ich sitze dicht neben ihm auf dem Sofa. Er beugt sich zu mir herüber, um mir nachzuschenken, und ich spähe in den Spalt im Bademantel, der sich dabei auftut. »Du hast einen tollen Waschbrettbauch.«
Das denke ich jedenfalls. Was ich aus meinem Mund kommen höre, klingt anders. Genuschelt. Meine Lippen fühlen sich geschwollen an, meine Zunge ist so schwer. Ich blicke auf, in Lances Gesicht, und der Raum fängt an, sich zu drehen. Das Glas fällt mir aus der Hand. »Was zu…?«
Lance nimmt mich bei den Schultern. Er steht auf, damit er mich hinlegen kann, so dass ich ausgestreckt auf dem Sofa liege. Er streichelt meine Wange. »Es tut mir leid, Anna.«
Das ist das Letzte, was ich höre, ehe die Dunkelheit über mir zusammenschwappt und mich verschlingt.
Kapitel 29
Ich träume. Kann gar nicht anders sein. Mein Körper schwebt in die Höhe, getragen von einem unsichtbaren Kissen aus Luft. Nein. Keine Luft. Hände heben mich hoch. Hände unter meinen Schultern, unter meinen Beinen, und jemand hält meinen Kopf. Ich öffne die Augen. Kann nichts sehen. Es ist zu dunkel. Seltsam. Vampire können doch im Dunkeln sehen. Warum sehe ich nichts? Jemand singt mit hoher, klarer Stimme. Schön. Feierlich. Die Sprache erkenne ich nicht. Es gefällt mir. Irgendwie tröstlich.
Ich rieche Räucherstäbchen. Ein vertrauter Duft. Blumig, holzig. Irgendein Eau de Cologne? Kann mich nicht erinnern. Ich zittere. Es ist kalt. Und feucht. Da ist noch ein Geruch unter dem Weihrauchduft. Moderig und schal. Wie staubige Erde.
Ich versuche, den Kopf zu drehen. Zwei starke Hände hindern mich daran. Als ich den Kopf schütteln will, um die Hände loszuwerden, packen sie fester zu. »Versuche nicht, dich zu wehren, Anna.« Wessen Stimme ist das? Mein Geist hat Mühe, die Wolke um meine Gedanken zu durchdringen, genauso wie der Körper die Hände nicht abschütteln kann. Es geht nicht.
Diejenigen, die mich tragen, rücken noch näher zusammen und schränken meine Bewegung nicht mehr nur mit den Händen, sondern auch mit den Körpern ein. »Sie sollte sich nicht wehren«, sagt eine Stimme in der Nähe. »Sie müsste bewusstlos sein. Hast du es genau so gemacht, wie ich es dir gesagt habe?«
»Ja. Ich habe ihr genau die Dosis gegeben, die du verordnet hast.« Dieselbe vertraute Stimme in meinem Kopf. »Du hast ihre Kraft unterschätzt.«
Ich spüre Finger, die mir das Haar aus der Stirn streichen. »Ich will nicht, dass ihr etwas passiert. Du hast mir versprochen, dass ihr nichts geschehen wird.«
Ich möchte schreien: »Warum zum Teufel hast du das dann getan?« Aber ich weiß, dass ich die Einzige bin, die mich hören kann. Der Schrei hallt in der Leere hin und her wie in einer Gruft gefangen. Vielleicht besser so. Jetzt erkenne ich die Stimme. Ich erkenne die Berührung und den Geruch der Hand an meiner Stirn. Bittere Tränen laufen mir übers Gesicht. Welche Ironie – einer meiner letzten Gedanken, ehe er mich betäubt hat, war der, dass ich ihn schützen wollte. Lance.
Ich höre auf, mich zu wehren. Ich brauche einen Plan, ich muss erst meine Kräfte sammeln. Der Gesang wird lauter. Was wie eine Prozession klingt, hält schließlich inne. Die Hände legen mich auf etwas Kaltem, Hartem ab. Meine Glieder werden darauf arrangiert, meine Hände über den Kopf gehoben und gefesselt. Die Beine gestreckt. Das, worauf ich liege, ist rauh. Unter dem Rücken und den Beinen sind unebene, scharfe Kanten, die sich in meine Haut bohren. Wenn ich versuche, mich zu bewegen, wird es schlimmer. Also liege ich still.
Ich werde mit irgendetwas bedeckt. Es ist leicht und fließt über meine Haut wie Seide. Erst die Berührung des Stoffes macht mir bewusst, dass ich bis jetzt nackt war, nicht nur den Händen, sondern auch den Blicken der Leute ausgesetzt, die mich hierhergebracht haben. Abscheu brodelt in meinem Magen, Galle steigt mir die Kehle hoch. Ich muss mich übergeben. Nein. Schluck es herunter.
Verwandle die Abscheu in Wut. Schmeck die Galle und genieße sie, denn sie ist Öl für den flammenden Zorn. Der Gesang wird noch lauter. Ein Gebet an eine Göttin. Mari. Woher ich das weiß?
Der Name wird immer wieder gesungen. Der Chor schwillt an. Mehr Stimmen. Mehr Worte, die ich eigentlich nicht verstehen sollte, aber irgendwie doch verstehen kann. Mari. Die Göttin der Erde. Beschützerin jener, die im Himmel, auf Erden und
Weitere Kostenlose Bücher