Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
allem, was wir wissen, wäre das gut möglich , entgegnet Culebra auf meinen Gedanken.
Frey hört nur Culebras spöttischen Kommentar und runzelt die Stirn. »Ihr versteht nicht, was dieses Buch bedeutet. Es enthält das gesammelte Wissen der Ersten. Es berichtet darüber, wie ein Auserwählter in die Welt kam. Es beschreibt nicht nur die darauffolgenden historischen Ereignisse, sondern auch das, was noch geschehen wird. Du, Anna, bist ein Abkömmling der Ersten. Nur ein einziger Vampir alle zweihundert Jahre ist als der oder die Eine gezeichnet. Das ist eine hohe Ehre.«
Freys weihevoller Tonfall lässt mich beinahe befürchten, dass er gleich vor mir auf ein Knie fallen und mir die Hand küssen wird. Im Augenblick bin ich jedenfalls froh, dass er meine Gedanken nicht mehr lesen kann. Culebra hingegen kann es. Ich rechne fest damit, dass er in dieser Sache mit mir einer Meinung ist, und bitte ihn sogar mit einem Gedanken darum, nicht allzu höhnisch zu reagieren. Frey glaubt offensichtlich an den Quatsch, den er da von sich gibt.
Dann erlebe ich eine echte Überraschung. Culebra wendet sich mir mit leuchtenden Augen zu. »Da hast du den Rat, den du gesucht hast.«
Ich kann gar nicht glauben, was ich da höre. Ich brauche einen Moment, um in Culebras Geist zu schauen und mich davon zu überzeugen, dass das kein Scherz war. Trotzdem kann ich mich nicht zurückhalten und platze heraus: »Du glaubst diesen Mist?«
»Du hast doch nach der Wahrheit gesucht. Ich denke, Frey hat sie gefunden.« Einen schwindelerregenden Moment lang komme ich mir vor wie Alice im Kaninchenloch. Culebra und Frey starren mich an. Ihnen steht die Ehrfurcht in den Augen, als sähen sie plötzlich etwas in mir, was vorher noch nie da war. Das ist ebenso beunruhigend wie lächerlich. Ich knalle meine Bierflasche auf den Tisch, und sie zucken zusammen. Bier und Schaum spritzen aus der Flasche und durchtränken die ausgebreiteten Unterlagen. Frey schafft es, das Buch an sich zu reißen, ehe auch das nass wird.
Was ich jetzt in ihren Augen sehe, bin ich gewöhnt – Gereiztheit. Damit komme ich viel besser zurecht. Ich beuge mich vor. »Erde an Frey. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert. Engel und Dämonen wandeln nicht mehr auf Erden, und ich trage auch kein Mal oder so. Entweder hast du die Prophezeiung falsch verstanden, oder da draußen läuft ein anderer Vampir herum, der auf seine Krönung wartet. Ich bin es jedenfalls nicht.«
Frey schiebt mit der Handkante Bier vom Tisch und hält das Buch mit der anderen Hand hoch. »Es ist mir egal, ob du das glaubst oder nicht«, erwidert er. »Du bist die Auserwählte. Alles, was passiert ist, beweist das. Kein neugeschaffener Vampir besitzt die Kraft und die Fähigkeiten, die du besitzt. Du bist aus einem bestimmten Grund hier. Das wirst du akzeptieren müssen.«
»Nein. Das akzeptiere ich nicht.«
Er blickt auf und sieht mir direkt in die Augen. »Nicht einmal, um David zu retten?«
»Das ist so was von unfair.« Selbst in meinen eigenen Ohren klinge ich wie eine dämliche, verzogene reiche Gans. Aber die Aussage meine ich ernst. Ich fange an, Gründe aufzuzählen, warum diese Vorstellung, ich sei so eine Art Vampir-Prophetin, völlig absurd ist.
»Gehen wir das Ganze doch mal logisch an. Du behauptest, ich sei ein Abkömmling der Ersten. Wie könnte das sein? Die meisten Vampire entscheiden sich nicht für diese Existenz. Wir werden nicht so geboren, wir werden zu Vampiren gemacht. Donaldson hat mich angegriffen, weil ich ihn festnehmen wollte. Er hatte nicht vor, mich zu verwandeln. Er wollte mich umbringen. Also bin ich nur durch einen Zufall zur Vampirin geworden. Weiter nichts. Das kann keine Bestimmung gewesen sein.«
Frey lässt mich ausreden, ehe er mit der Gegenaufzählung anfängt. »Zufall? Sehen wir uns die Sache näher an. Donaldson war ausgerechnet in dieser Nacht auf dem Parkplatz, weil er gerade aus einer Bar kam. Er hatte etwas trinken gehen wollen. Allein. In einer Bar, die er noch nie zuvor besucht hat, und obwohl er sich am nächsten Morgen nach Mexiko absetzen wollte. Stimmt das so weit?«
Er wartet mein widerstrebendes Nicken kaum ab. »Du warst dort, weil du einen sicheren, ungefährlichen Job als Lehrerin aufgegeben hattest, um Kopfgeldjägerin zu werden. Im größeren Zusammenhang betrachtet ist das ungefähr so logisch wie, dass Donaldson seine Freiheit wegen eines lausigen Drinks aufs Spiel setzt. Aber zurück zu deiner Geschichte. Donaldson entpuppt sich
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