Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
auf meine sogenannte Fähigkeit geben, das Böse zu wittern. Lance hat mich gründlich reingelegt. Er hat sich als ebenso mieser Dreckskerl erwiesen wie Underwood.«
Culebra widerspricht leise: »Lances Verrat war ein Zeichen von Schwäche, nicht von Bosheit.« Ich starre ihn an. Hat er etwa Einzelheiten aus Lances Brief in meinem Kopf gelesen? Spielt jetzt keine Rolle.
Der Gedanke daran, was in der Höhle in Biarritz passiert ist, lässt meine Erschöpfung wieder voll durchschlagen und macht mich fertig. »Ich will jetzt nicht mehr darüber reden. Ich fahre nach Hause.«
Das verdrängt Freys Ärger über Culebra sofort. Er fährt zu mir herum. »Ich bin noch nicht fertig. Ich muss dir noch viel mehr erklären. Du musst Vorbereitungen treffen, Benimmregeln lernen. Du kannst nicht einfach so tun, als würde dieser Tag nicht kommen, Anna. Du musst vorbereitet sein.«
Er ist so aufrichtig in seiner Besorgnis, so überzeugt von dem kleinen Buch, das für ihn die reine Wahrheit enthält, dass ich nicht mehr den Willen oder die Kraft habe, dagegen anzukämpfen. Ich lege ihm eine Hand auf den Arm und so viel Aufrichtigkeit in meine Stimme, wie ich kann. »Du kannst mir heute Abend mehr erzählen. Wenn wir zu Avery fahren.«
Er entspannt sich bei diesem Vorschlag, sammelt seine Unterlagen und dieses dämliche Buch ein und schiebt alles zurück in die Aktentasche. »Ich komme früh bei dir vorbei«, sagt er.
»Lange vor dem Dunkelwerden, damit wir genug Zeit haben.«
Culebra lässt sich nicht so leicht täuschen. Er beäugt mich, wie eine Spinne eine Fliege beobachtet, die um das Netz herumsummt. Er bemerkt meine bedachte Geste, liest die Absicht hinter den Worten. Er vermutet, dass Freys Chance, seinen Einführungskurs zu Ende zu halten, ungefähr so gut ist wie die der Fliege, wenn sie erst das Netz berührt hat. Ich widerspreche ihm nicht. Ich gebe ihm sogar zu verstehen, dass er recht hat.
Er schirmt seine Gedanken ab, damit Frey nichts mitbekommt. Sei vorsichtig, Anna. Du wagst dich in gefährliche Gewässer vor. Mach nicht den Fehler, zu glauben, weil du etwas so und nicht anders haben willst, würde es auch so kommen. Es gibt Dinge auf dieser Welt, über die du keine Kontrolle hast.
Ich begegne seinem Blick und sage nichts. Soweit ich das beurteilen kann, habe ich überhaupt keine Kontrolle mehr über all das gehabt, was irgendwer mit mir angestellt hat, seit ich zum Vampir geworden bin. Das wird aufhören. Und zwar sofort.
Auf der Heimfahrt schiebe ich jedes einzelne Wort dieser Unterhaltung beiseite. Ich konzentriere mich allein aufs Fahren, auf meine Erschöpfung und auf das Bett, in das ich fallen werde, sobald ich zu Hause ankomme. Ich bin seit achtzehn Stunden auf den Beinen. Nur ein paar Stunden Schlaf, dann stelle ich mich dem einzigen Hindernis, mit dem ich es heute Abend aufzunehmen gedenke. Judith Williams. In meinem Strandhaus ist es kühl und still, eine Erholung nach der hellen, vom Sand reflektierten Sonne. Ich vergewissere mich, dass alle Türen abgeschlossen und die Vorhänge zugezogen sind, ehe ich dankbar den Kopf aufs Kissen sinken lasse. Sein Duft trifft mich wie ein Faustschlag. Er hängt in der Bettwäsche, treibt in der Luft, überschwemmt meine Gedanken wie eine Flutwelle.
Verdammt sollst du sein, Lance. Ich schleudere das Kopfkissen durch den Raum und reiße Bettdecke und Laken vom Bett. Ich lasse nicht zu, dass er mir das antut. Aber die nackte Matratze riecht immer noch nach uns. Nach Sex, Blut und Leidenschaft. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Gleich morgen schaffe ich das Ding zum Sperrmüll. Wenn ich David wiederhabe. Und dann mache ich mich auf die Suche nach dem Dreckskerl.
Es ist erst sechs, als ich von meinem Nickerchen aufwache, das gegen meinen üblen Schlafmangel kaum etwas ausrichten konnte. Lebhafte Träume von der Höhle in Biarritz wechselten sich mit ebenso lebhaften Träumen von Lance ab – erotische Bilder, auf die mein Körper selbst im Schlaf reagiert hat.
Als ich die Augen aufschlage, ist mein Gesicht nass von Tränen, und mein Körper schmerzt vor Einsamkeit. Ich taumele ins Bad, ziehe mich aus und zwinge mich unter die eiskalte Dusche. Der Schock belebt mich. Meine Trägheit weicht dem Gefühl, ein Ziel vor Augen zu haben, die Niedergeschlagenheit wird von frischer Energie vertrieben. Ich darf vor lauter Trübsal nicht vergessen, worum es heute Nacht wirklich geht: David zu finden.
Ich ziehe mich für eine nächtliche Operation an. Schwarze Jeans,
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