Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
verschließen die Tür und überlassen den besseren Rausschmeißer seinem schönen, langen Nickerchen. Frey und ich wechseln einen Blick. Offenbar habe ich mich geirrt, als ich davon ausgegangen bin, dass Judith mich erwartet. Sie hat meinen Namen nicht auf die Gästeliste gesetzt.
Frey fragt: »Vordertür oder hinten rum?«
Ich überlege kurz. »Ach, zum Teufel. Haustür. Machen wir eben ein bisschen Aufhebens.« Ich lenke den Wagen nicht in die Einfahrt, sondern setze zurück und parke ein paar Meter vom Tor entfernt am Straßenrand. Falls wir schnell verschwinden müssen, können Frey und ich über die Mauer springen und zum Auto gelangen. Wenn uns jemand folgen wollte, müsste er zuerst das Tor öffnen.
Das bringt mich auf eine Idee. Ich beuge mich zum Tor vor und sehe mir das Schloss an. »Meinst du, wir könnten es blockieren?«
Frey mustert das Schloss. »Es ist elektronisch verriegelt.« Er blickt auf und schaut sich um. »Der Sensor ist da oben auf dem Pfosten. Wenn wir den kaputt machen... « Er sieht sich um. »Das müsste gehen.« Er hebt einen großen Stein auf, balanciert ihn in der Hand aus, zielt und schleudert ihn auf das blinkende kleine Licht auf einem der drei Meter hohen Torpfosten. Es klirrt, und das Licht erlischt.
»Guter Wurfarm! Ich wusste gar nicht, dass du das drauf hast.«
»Drei Jahre Baseball im College.« Einen Augenblick lang lächeln Frey und ich uns an, als wären wir zwei Kinder bei einem HalloweenStreich, nicht zwei erwachsene Einbrecher. Der Moment vergeht. »Gehen wir«, sagt Frey. »Vielleicht hat jemand das Klirren gehört.«
Wir joggen die lange Auffahrt entlang auf die Haustür zu. Die Musik wird lauter, das Licht heller. Im Kreisel vor dem Haus sind ein halbes Dutzend Stretchlimos geparkt. Sie sind leer – keine Fahrer. Ich öffne eine Tür und schnuppere. Es riecht nach Mensch und Vampir. Das überrascht mich nicht. Frey berührt mich am Arm. »Wie willst du vorgehen?«
Ich ziehe den Saum meines T-Shirts herunter und fahre mir mit den Fingern durchs Haar. »Machen wir Party.«
Kapitel 39
Ich erinnere mich an den Augenblick, in dem mir klarwurde, dass Avery ein Ungeheuer war. Das übelkeiterregende Gefühl, verraten worden zu sein. Ich erinnere mich, wie schwer es war, dieses Haus zu betreten und so zu tun, als sei alles wie immer, damit ich David befreien und meine Rache planen konnte.
Ich rechne damit, all das wieder zu spüren. Jetzt.
Auf unser Klingeln öffnet ein junger Mann im Smoking die Tür. Falls er zum Personal gehört, ist er nicht sehr gut. Er mustert mich von oben bis unten, macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder. Keine Begrüßung, kein »Kommen Sie herein«. Jeans und T-Shirt sind wohl nicht die passende Garderobe. Ich sollte ihm sagen, dass ich die schriftliche Einladung nicht bekommen habe. Wir folgen ihm nach drinnen. Der Kerl ist ein Mensch, und nach seinem Geruch zu urteilen, hat er es kürzlich mit jemandem getrieben. Sehr kürzlich. Wahrscheinlich gerade eben noch. Moschus und Testosteron triefen wie Schweiß aus seinen Poren.
Meine Nase rümpft sich wie von selbst, und meine Hormone fahren hoch. Ein unruhiges Zappeln von Frey sagt mir, dass er es auch gerochen hat. Wir schauen ihm nach, während er über den Steinboden des Foyers in die Richtung geht, aus der die Musik kommt. Ins Wohnzimmer. Stimmen mit verschiedenen Akzenten übertönen die Musik und das Klimpern von Gläsern. Als ich zuletzt hier war, hatte Avery vom Körper einer Werwölfin Besitz ergriffen, um mich zu töten. Was mich wohl diesmal erwartet?
»Miss Strong?« Eine Frauenstimme – eine vertraute Frauenstimme – spricht mich von einer Tür an der rechten Seite des Foyers an. Da ist die Küche, soweit ich mich erinnere. Ich drehe mich dorthin um.
»Dena?«
Eine junge Frau mit asiatisch anmutenden Zügen und glattem schwarzem Haar lächelt mich an, als wäre sie bei unserer letzten Begegnung nur Averys Haushälterin gewesen, nicht seine Blutsklavin. Sie trägt einen schwarzen Rock, eine gestärkte weiße Bluse und ein breites schwarzes Band um den Hals. In den Händen hält sie ein Silbertablett mit Champagnergläsern und einem Sektkühler. »Was tun Sie denn hier?«, frage ich.
»Ich arbeite.«
»Für Mrs. Williams?«
Sie lacht. »Nicht doch, für Sie. Schon seit Dr. Avery weggezogen ist. Ich habe mich um das Haus gekümmert. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid. Als sein Freund vor ein paar Monaten hier war, habe ich Sie leider verpasst. Meine Mutter war krank.
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