Anna und Anna (German Edition)
Flechten bewachsenen Bäume ausschauen, unter denen ihr einherspaziert seid, wie sich deine Haare in der feuchten Luft kräuseln, wie eure Schaukelstühle auf der Veranda leise knarzen, während ihr endlich verschnauft und eurer Wirtin lauscht, die erzählt, dass sie zaubern kann.
Ein bisschen Wachs und echtes Haar braucht man also, ja? Von ihm und von mir? Und schon liebt Jan mich in alle Ewigkeit?
Allerdings wüsste ich dann immer, dass ihn nur die Stecknadel trieb und nicht die Sehnsucht nach mir. Und wie frustrierend wäre das denn bitte?
Ich fürchte also, es muss ohne gehen. Wenn es denn geht. Ja, er schreibt noch, gelegentlich, selten, also eigentlich fast nie, das letzte Mal zu meinem Geburtstag. Und wie sich seine Küsse anfühlen, habe ich schon fast vergessen.
Aber ihn vergesse ich sicher nie.
Schreib mir doch noch mehr von Georgia, Virginia und den anderen Südstaaten-Damen, das lenkt mich ab, das heitert mich auf.
Mama macht sich natürlich immer mal wieder Sorgen um dich, aber sie kommt klar und deine Karten helfen. Papa hilft auch. Und Benni: Er ist so sehr gewachsen, dass ihm alle Hosen zu kurz sind und alle Schuhe zu klein. Heute ist er in meinen alten Sneakers zur Schule. Und obwohl die Dinger lila Streifen haben, war er stolzgeschwellt. Du hättest deine Freude an ihm gehabt.
Es vermisst dich
deine Anna.
Liebe Oma,
habe ich dir schon erzählt, dass ich neuerdings in der Theatergruppe unserer Schule bin?
Eigentlich dachte ich, ich widme mich dem Plakatebeschriften, Programmzettelschreiben und Inhaltsangabenverfassen, weil ich ja im Aufsatz immer so gute Noten habe. Aber irgendwie bin ich auf der Bühne gelandet. Und irgendwie macht mir das sogar Spaß! Ich hätte es nie gedacht. Ich weiß auch nicht, ob das anhält. Doch was wir gerade einstudieren, liegt mir. Halt dich fest: Ich bin die Seeräuber-Jenny!
Eigentlich ist sie ja nur eine Figur, von der eine andere Figur in der Dreigroschenoper singt. Sie darf nie auftauchen. Bei uns aber schon! Wir planen kein Stück, sondern eine Art Revue mit einzelnen Nummern, Texten und Liedern aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Einen Leierkasten haben wir und auch einen Leierkastenmann. Ich bin der Meinung, einen Affen könnten wir noch gut gebrauchen. Für den Leierkastenmann und für mich, die Seeräuber-Jenny.
Ich finde sie umwerfend! Gut, sie ist völlig erbarmungslos, das ist erschreckend – aber irgendwie auch ein bisschen bewundernswert.
Ich sehe das Schiff mit den acht Segeln und fünfzig Kanonen vor mir, wie es im Hafen anlegt. Ich stelle mir vor, wie die Menschen unruhig werden. Sie wissen nicht, was kommt, ahnen nicht, dass ihr Ende nah ist, doch Jenny, die mitten unter ihnen steht, weiß es.
Warum wohl hat sie kein Mitleid gezeigt? Ich versuche noch, es herauszufinden, denn ich soll sie ja jetzt mit Leben füllen.
Ist das nicht aufregend?
Vielleicht muss ich mir doch ein Ohrloch stehen lassen, wenn ich schon keinen Affen kriege.
Anna
Ahoi, Steuermann!
Weißt du, was Papa gesagt hat?
»Solange du keinen Nasenring willst, ist mir alles egal«, hat er gesagt. »Ich glaube nämlich, dann könnte ich dich nur noch anblöken.«
Mama hat dafür ihren Radiergummi nach ihm geworfen. Und Benni will jetzt natürlich unbedingt einen Nasenring. Das hat Papa nun davon.
Morgen gehe ich mir mit Mary-Lou ein Ohrloch stechen lassen. Nur eins! Mama hat angeboten mitzukommen. Und sie hat sich sehr bemüht, nicht verletzt zu sein, als ich abgelehnt habe. Darum habe ich sie gefragt, welche Seite denn einen Ohrring bekommen soll. Sie meint, die linke, weil das erstens meine Schokoladenseite sei und ich zweitens mein Haar wenn, dann hinters linke Ohr stecke.
Das linke Ohr also. Ich denke, das ist okay.
Drück mir die Daumen!
Dein Käptn
Lieber Jan,
magst du eigentlich Ohrringe?
Ich habe dich nie danach gefragt. Aber ich trage jetzt einen. Im linken Ohr. Silbern ist er. Lang baumelt er herunter. An einer dünnen Silberkette hängt ein kleiner silberner Anker. Du darfst nichts Schlechtes über ihn sagen, denn ich liebe ihn sehr.
Er hat mich mein Taschengeld der vergangenen zwei Monate gekostet. Und irgendwie fühle ich mich sehr piratig damit.
Mast- und Schotbruch wünscht
Anna
PS
Und das Schiff mit acht Segeln
und mit fünfzig Kanonen
wird beschießen die Stadt.
»Die Seeräuber-Jenny«
Liebe Anna,
ich bin mir sicher, Silber steht dir ausgezeichnet.
Die Piratin
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