Anna und Anna (German Edition)
als
deine Anna
Einen frohen dritten Advent,
lieber Henri,
wünsche ich dir. Bei uns hat sich noch immer keine Schneeflocke blicken lassen. Ich bin ein bisschen neidisch auf dich in deinen weißen Bergen. Welch hervorragender Einfall deiner Tochter, einen Österreicher zu heiraten! Einen mit Haus und Hof zudem. Ich freue mich schon sehr darauf, sie alle kennenzulernen im nächsten Jahr. Das Haus, den Hof – und deine Familie natürlich.
Meine Familie ahnt noch immer nichts. Vielleicht bereite ich ihnen eine Überraschung zum Fest. Ja, ich weiß, ich bin feige, aber sieh es doch mal so: Ein Pflaster reißt man auch besser mit einem Ruck ab. Das tut zwar weh, ist aber schnell wieder vorbei.
Obwohl ich ja nicht so schnell wieder da sein werde …
Nachdenklich,
Anna
Lieber Henri,
der verlorene Sohn ist heimgekehrt!
Ich war nicht dabei, als Jans Vater heute seinen Sprössling vom Flughafen abgeholt hat. Ich habe auch nicht gesehen, wie Jan zum ersten Mal seit gut drei Jahren am Ahorn vorbeigegangen ist oder ob er dem alten Schaukelreifen vielleicht einen zärtlichen Stups gegeben hat. Und ich habe auch nicht beobachtet, was für ein Gesicht er gemacht hat, als er das Haus betrat.
Anna aber.
Sie wollte das gar nicht. Sie hat nicht darum gebeten. Doch gestern Abend stand plötzlich Jans Vater vor unserer Tür.
»Johann«, rief Bella überrascht. »Komm rein, komm rein, es ist ja so eisig draußen.«
Und sehr zögernd kam Johann. Er rang ein wenig die Hände, er trat von einem Fuß auf den anderen. Er wurde erst ruhig, als Anna, mein kleiner Sonnenschein, die Treppe herunterhüpfte.
»Anna«, sprach er, sobald er sie sah. »Gehst du morgen mit, wenn ich Jan abhole? Bitte! Ich schaff das nicht allein.«
Was sollte sie da sagen?
Heute früh hat er Anna eingesammelt. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt geschlafen hat. Sie war jedenfalls mindestens so unruhig wie Johann gestern Abend.
Kopfschüttelnd habe ich zugesehen, wie die beiden sich auf den Weg machten. Ben drückte mir meinen Becher Milchkaffee in die Hand und stellte sich neben mich.
»Was denkst du?«, fragte er.
»Daumen drücken«, antwortete ich.
Er hielt beide Hände hoch, um zu zeigen, dass er das sowieso schon tat. Dann ging er mit Benni den Weihnachtsbaum schlagen.
Als Anna zurückkam, saß ich immer noch in der Küche. Sie kam allein. Zu Fuß. Vom anderen Ende der Straße.
Ich habe nichts gesagt, nichts gefragt. Ich bin nur auf meiner Bank ein bisschen zur Seite gerutscht, damit sie neben mich sinken konnte. Und obwohl da nun wirklich genug Platz für uns beide war, rückte sie in ihrem Anorak ganz nah an mich heran.
Eine Weile sagte sie nichts. Dann sagte sie: »Ich hatte mich so darauf gefreut, ihn zu sehen.« Legte den Kopf auf die Arme und begann zu weinen.
Ich griff mir erst ans Herz, ihr dann tröstend in den Lockenkopf.
»Mein lieber Schatz«, sagte ich. »Meine kleine Anna. Was ist denn passiert?«
Jan natürlich, du kannst es dir denken. Da standen also Anna und Johann am Flughafen, einer von ihnen nervöser als der andere, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, Anna ihrerseits sehr darum bemüht, Johann über seine Nervosität hinwegzuhelfen. Und dann kam Jan aus dem Terminal. Schon wieder ein Stück größer, erzählte Anna, dafür mit kürzeren Haaren, einem Seesack über der Schulter – und einem ganz seltsamen Ausdruck im Gesicht.
Armer, überforderter Jan. Da war wohl noch jemand sehr nervös.
Kurz, behauptet Anna, habe er gelächelt, als er sie sah. Überrascht, aber erfreut. Dann erblickte er seinen Vater und das Lächeln erstarb. Wie zwei Fremde gaben sich Vater und Sohn die Hände, erzählt meine Enkelin. Sie dachte: Nun nehmt euch schon in die Arme! Aber sie taten es nicht. Johann begann, höflich Fragen zu Jans Reise zu stellen, die Jan genauso höflich beantwortete. Doch obwohl sie sich so scheinbar nichts zu sagen hatten, schienen sie plötzlich völlig vergessen zu haben, dass Anna auch anwesend war.
»Und das ist das Schlimme?«, fragte ich sie.
»Nein«, stieß meine Enkelin zwischen zwei Schluchzern hervor. »Natürlich nicht. Das ist verständlich. Schlimm ist, dass er mich nicht vermisst hat.«
»Hat er nicht?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Hat er das gesagt?«
Anna schüttelte wieder den Kopf. »Aber«, sagte sie, »mir hat er auch nur die Hand gegeben.«
Und sie weinte weiter.
Arme Anna! Da hat sie sich so angestrengt, alles richtig zu machen, da hat sie auch
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