Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
an dir. Sie heckt bestimmt schon den nächsten Plan aus, wie sie dich doch noch rumkriegen könnte.“
Er sah gedankenversunken auf die Fackeln, in denen das blaue Feuer leicht vor sich hin krächzte, und sagte leise: „Ich müsste auch etwas klären.“
„Na dann los!“ Anna schritt zum Ausgang.
„Passt auf euch auf!“, rief Scharta.
Und die beiden verschwanden sogleich in der Dunkelheit des Tunnels.
Als sie oben im Wohnzimmer ankamen, war es taghell. Dichter Nebel hing hinter den Fenstern. Es nieselte leicht. Unzählige kleine Tropfen klebten an den Scheiben. Die Jungmagierin unterdrückte einen Seufzer und lief zu Alphira.
Sie lag so, wie Anna sie zuletzt gesehen hatte: den Kopf auf den hohen Kopfkissen, die Hände dünn und kraftlos über der Daunenecke. Ihr Gesicht schien noch bleicher, die Haare stumpfer. Die junge Frau setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre schlaffe Hand. Ein schwacher, unsicherer Herzschlag ließ sich mit Mühe aufspüren. Sie strich leicht über Alphiras Wange. Ihre Haut fühlte sich kühl an. Sie wurde fahler um die spitz gewordene Nase.
Die Jungmagierin vernahm einen leichten Hauch der Mischung aus Verwesung und Schwefel und blickte sich rasch um. Niemand. Aber was war es, das diesen Gestank verströmte? Sie ging ums Bett und streifte mit dem prüfenden Blick das Zimmer. Seltsam . Ich rieche doch etwas von diesem Monstrum. War sie etwa hier in meiner Abwesenheit? Und wenn ja, was wollte sie? Was hatte sie hier zu suchen? Anna versuchte die Gedanken im Raum aufzunehmen. Keine Spur. Wenn sie da war , wird sie wohl daran gedacht haben, alles wegzuwischen . Sie beugte sich zu der Großmagierin vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich werde es schaffen. Du wirst es sehen. Es wird alles gut.“ Sie schloss die Tür leise hinter sich zu und ging langsam in ihr Zimmer die Treppe hoch.
Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Ian am Tisch im Wohnzimmer, die Beine ausgestreckt, die Arme verschränkt, die Augen geschlossen.
Er blickte auf und zog die Brauen hoch. Echte Verwunderung spiegelte sich in seinem Blick. „Du siehst aber aus! Wieso trägst du diese Kleider? Sie scheinen wie nicht von dieser Welt.“
Anna lächelte reserviert. „Sind sie auch nicht. So etwas ist dort, wo ich hingehe, mehr oder weniger üblich.“
Über einem knöchellangen weißen Kleid aus feinster Seide trug sie einen samtenen, dunkelblauen Mantel. An den Borten, breiten Umschlägen der Ärmel, am Saum und am Rücken von oben nach unten rankten sich goldene Stickereien, die üppige Pflanzen und wundersame Blumen darstellten.
„Es sieht so … schwer aus“, stammelte Ian, ohne seinen Blick von ihrem Gewand abzuwenden.
„Gefällt dir nicht?“
„So meine ich es nicht“, schüttelte er den Kopf. „Es sieht so seltsam aus, aber irre schön und irgendwie festlich.“
„So ist es. Es ist auch im gewissen Sinne ein Fest, das ich lange hinausgezögert habe“, erwiderte die junge Frau.
„Wo gehst du hin? Ich muss wissen, wo ich dich suchen soll, falls was ist.“
„Ich gehe meinen Vater besuchen. Und ja, ich komme allein zurecht.“ Sie schritt in Richtung Tür. Dort drehte sie sich um. „Weißt du, was mich wundert?“, fragte sie, ihr ernster Blick auf seine Augen gerichtet. „Du kommst aus einem alten Volk mit einer langen Tradition, du verfügst über etliche Informationen bezüglich deiner Vorfahren. Du hättest relativ leicht mehr darüber herausfinden können, wer sie waren, was sie taten, wann und warum. Bloß seltsamerweise interessiert dich das alles nicht. Das scheint dir völlig egal zu sein. Ich dagegen kann nur bis zu meiner Großmutter zurückblicken. Ich kannte sie nicht mal, genauso wenig wie meine Mutter und nur allzu kurz das Land, wo ich geboren war. Aber ich möchte mehr davon wissen, wie einige andere Dinge auch. Du sitzest auf einer üppig gefüllten Truhe und bist zu faul oder zu feige, diese Schätze zu heben und sie für das Wohl deiner Leute einzusetzen. Ich weiß, ich habe so etwas nicht. Aber ich werde dorthin gehen, wohin mein Herz mich trägt und ich will die Bruchteile der Wahrheit über meine Vergangenheit ans Licht bringen, die noch zu retten sind. Ich will nicht weiter wie ein Baum ohne Wurzeln dahin vegetieren. Das wird nichts bringen und niemandem weiterhelfen.“
„Wie kommst du plötzlich auf so etwas?“, fragte er perplex.
„Ich denke, die wichtigsten Fragen im Leben sind: wer du bist, woher du kommst und wohin du gehst. Hat
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