Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Kräuter taten den Rest.“ Die Alte grinste zufrieden, drehte sich um, nahm eine Papiertüte vom Regal hinter ihr, schüttelte die trockenen Kräuter in den Topf und rührte mit dem langen Holzlöffel kräftig um. „Ich dachte, wenn du nur an die gewöhnlichsten Dinger denkst, wie so viele andere Menschenkinder auch, dann bist du fein raus, dann hat diese Bestie keinen Zugang zu dir. Das Vergessen war das Einzige, das gegen ihre Mühen bestehen konnte. Das war die beste Magie.“
Er sah sie entrüstet an, erhob sich und verließ ohne ein Wort ihre Hütte. Die Tür quietschte quengelig auf und schlug hinter seinem Rücken zu.
Kapitel 36. Wieder im Alten Haus.
Schwere Wolken schleppten sich im dunklen Himmel. Ian atmete tief die kühle Frische ein. Das tut gut! Er knöpfte die Jacke zu und ließ sich von seinen Füßen tragen. Er lief, ohne zu wissen wohin.
Bald fand er sich vor dem Alten Haus. Es hatte sich nicht viel geändert: Leere und Verlassenheit strahlte das alte Gemäuer aus. Die ehemals weiße Farbe blätterte von der Fassade ab. Die roten, zerbrochenen Dachschindeln lagen auf dem Boden, das Gras drängte sich zwischen den Scherben hoch, bedeckte sie fast vollständig mit ihrem inzwischen nicht mehr so frischen Grün. Im Vorgarten wucherten die Brennnesseln. Die violetten Köpfe der Disteln reichten fast bis zu den Fenstern, die durch eine dicke Schicht vom Schmutz auf dem hier und dort zerbrochenen Glas traurig auf den Besucher blickten. Eine weiße Clematis rankte sich am Türrahmen hoch.
Die alte Eingangstür war nicht verschlossen. Sie ging mit einem ausgedehnten Quietschen auf, als er sie aufzog. Abgestandene Luft schwappte ihm entgegen. Sie roch nach einer Mischung aus Kot, Verwesung und Staub. Sein Magen zog sich zusammen. Anflug von Übelkeit ließ ihn die Tür wieder loslassen. Er drehte sich um, holte tief die frische Luft und tauchte in die kühle Dunkelheit hinein.
Er lief blindlings den Flur entlang. Eine dicke Schicht Schmutz auf dem Fußboden dämpfte das Hallen seiner Schritte. Hin und wieder knirschte etwas unter seinen Füßen. Unzählige Spinnweben hingen von der Decke herunter und streiften ihn sanft an den Haaren. Manche Fetzen blieben in seinen Locken hängen. Er wischte sie schnell mit der Hand weg und eilte weiter. Der dunkle Flur zog sich endlos. Was, wenn es das Kaminzimmer nicht mehr gibt? Zerstört von der Zeit und Witterung?
Bei dem Gedanken lief er noch schneller. Ein paar Fledermäuse huschten über seinem Kopf und verschwanden in der Dunkelheit. Vorne zeichnete sich ein schmaler, heller Streifen ab. Endlich. Ian rannte die letzten Meter. Er schob die nur auf einem Scharnier hängende Tür auf und trat hinein.
Es roch nach Feuchtigkeit und Kot. Die Luft war hier jedoch besser: Der Wind pfiff durch die zerschlagenen Scheiben. Sein Blick fiel auf die hohen Fenster. Bleiglas. Oben spitz, mit bunten Mustern verziert, die entfernt an Blumen erinnerten, ja, so war es in unserem Kaminzimmer. Und hier, an den breiten Fensterbänken standen Violas Blumen und flüsterten ihr die unzähligen Geheimnisse zu.
Einige Scherben von Blumentöpfen lagen auf der festen Schicht Staub auf dem Boden. Ian fiel auf einmal ein, wie er früher aussah. Es war ein helles Parkett aus dünnen, kurzen Stäbchen im Grätenmuster. Er schob mit dem Fuß die trockenen Blätter und Zweige beiseite, spuckte auf die freigewordene Stelle und rieb sie mit der Schuhspitze. Das Helle vom Ahorn, in schmalen Stäben gelegt, kam zum Vorschein. Er nickte zufrieden und sah sich weiter um.
Der Kamin. Hier saß er als kleines Kind auf einem Teppich davor. Mächtiges, bläuliches Feuer loderte und knackte fröhlich vor sich hin. Der Junge spielte mit einer kleinen Drachenfigur. Der Drache sprang von seinen Händen zu den Füßen, auf die weichen, flauschigen Fasern des Teppichs, dann auf die Schulter und auf den Kopf. Der Junge versuchte ihn zu fangen, aber der kleine Drache schaffte es immer wieder, ihm zu entkommen und tauchte an einer völlig unerwarteten Stelle wieder auf, kitzelte ihn mal am Ohr, mal am Bein, das zwischen der hochgerutschten Hose und Socke frei geworden war. Das Kind lachte so herzlich dabei.
Ian war, als ob er den Nachhall dieses unbeschwerten glücklichen Lachens noch immer hören konnte.
Auf einmal sprang der kleine Drache einen Tick zu weit und landete in den Flammen. Der Junge robbte hin und langte mit seinen kurzen, dicklichen Händchen hinein. Das Feuer fühlte sich so samtig und warm
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