Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
an. Es ließ ein paar leuchtende Fünkchen springen und gab ihm sein kleines Spielzeug zurück.
Eine großgewachsene, hagere Frau betrat das Zimmer. Sie trug ein langes, dunkelblaues Kleid mit einer schneeweißen Schürze darüber. Sie eilte zu den Blumen auf der breiten Fensterbank, eine große Gießkanne in der Hand.
Die Blumen fingen an zu flüstern, die Ranken und Bluten streckten sich ihr entgegen. Sie erzählten die neusten Nachrichten, alles, was sich in der letzten Zeit in der Oberwelt ereignete. Zwischen all dem Gemurmel ging es um eine Frau, die sie die Grausame nannten. Sie flüsterten Viola zu, dass die Frau sehr gefährlich war, dass sie etwas Schreckliches plante, etwas, das die Oberwelt noch nie erlebt hatte, etwas Unerhörtes, das die ganze Andere Welt für immer verändern würde. Sie schrien beinah: „Die Frau gehört verbannt, so sagte der Wind. Die Frau gehört aus der Anderen Welt weg, so sagten die Gräser.“
Viola goss das Wasser in die Töpfe und Kästen und versuchte, sie zu beruhigen. „So schlimm kann es ja nicht sein“, sagte sie mit Zuversicht in der Stimme. „Man darf nicht alles glauben, was der Wind mit sich herumträgt.“
Die Blumen schüttelten kräftig die Köpfe. „Das stimmt aber! Sie sitzt in der Küche in diesem Haus. Das ist unerhört! Sie ist gefährlich! Für dich, für Ian, für deine Familie, für das ganze Drachengeschlecht, für uns alle. Sie gehört verbannt aus dieser Welt!“
Viola goss die Wasserreste aus der Kanne und ging in die Ecke hinter dem Kamin, um die Gießkanne nachzufüllen.
Plötzlich ging die Tür am hinteren Ende des Zimmers auf und eine kleine Frau in Schwarz huschte in den Raum. Sie schaute verstohlen nach links und rechts. Von einer einige Meter Entfernung sah sie wie ein Mädchen aus. Je näher sie kam, desto mehr konnte Ian ihr Gesicht mit gleichmäßig geschnittenen Zügen erkennen: Es strahlte etwas Unheimliches aus. Die Frau kam auf das Kind zu, beugte sich vor, nahm es hoch und hielt es auf den ausgestreckten Armen. Ihre schwarzen Augen bohrten sich in die vom Jungen. „Eines Tages wirst du mir gehören, Kleiner“, zischte sie. Ihre Worte klangen wie eine längst beschlossene Sache. Sie setzte ihn wieder ab, ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. Sie schmiss die Drachenfigur ins Feuer und verschwand hinter der Tür.
Ian schüttelte den Kopf, die alten Bilder lösten sich auf. Er suchte in seiner Tasche nach dem kleinen Drachen und setzte ihn auf das Sims des alten Kamins ab. Der schwarze Schlund gähnte dem jungen Mann entgegen. Seit Langem tanzte kein blaues Feuer mehr darin. Schade. Früher sah es hier viel gemütlicher aus .
Plötzlich überfüllte eine Flut von längst vergessenen Bildern seinen Kopf. Er sah, wie er, noch ein kleiner Knirps, seinen Vater solange anbettelte, bis er nachgab und ihn auf seine nächtliche Tour mitnahm.
Es war eine warme Sommernacht. Der volle Mond schwebte immer höher über den Tannenwipfeln im immer dunkler werdenden Himmel. Die ersten Sterne blinzelten geheimnisvoll auf die schlafende Erde herunter. Der kleine Junge lief, die große Hand fest umklammert, über das feuchte Gras. Seine Schuhe waren nass und schwer, die Hose klebte an den Beinen, er sagte aber nichts und lief noch schneller, um mit den weiten Schritten seines Vaters mithalten zu können. In der Mitte der Wiese sah er eine Gruppe von Erwachsenen, die sich lebhaft miteinander unterhielten und lachten. Ian versteckte sich hinter den Beinen des Vaters, als dieser sich der Gruppe anschloss. Er guckte hoch und sah, dass einige Drachen bereits oben waren. Von unten sah es faszinierend aus, als ob sie um den Mond kreisten. Dann fingen sie an, in der dunkelblauen Weite seltsame Formationen mit ihren Körpern zu bilden. Diese sahen wie geheime Zeichen aus, die fließend einander abwechselten, als ob jemand mit fliegenden Drachenkörpern bestimmte Botschaften im samtenen Himmel schrieb.
Der Vater beugte sich zu ihm und hob ihn hoch auf den Arm. „Das ist der Drachentanz. Wenn du es dir nicht anders überlegt hast, dann müssen wir auch gleich los.“
Der Junge nickte.
Bald saß er auf dem Rücken eines riesengroßen Drachens. Die breiten Flügel bewegten sich rhythmisch und gemächlich, sein Panzer schimmerte silbern im hellen, milchigen Mondschein. Ian hielt sich mit den beiden Händen an einem der Zacken fest, die vom Kopf bis zur Spitze den mächtigen Körper zierten.
Sie ließen bald die anderen unter
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