Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
gewöhnlich. Nur die Augen blieben, denn sie hatten das Leben des Jungen und seiner Vorfahren bis dahin in sich aufgenommen. Die Steine wurden dann von den älteren Frauen der Familie aufgesammelt und in der Familientruhe aufbewahrt.“
„Und das soll meinem Drachen auch passieren?“ Ian blickte entsetzt. „Er soll zerfallen?“
„So sind die Regeln.“
„Ich will nicht, dass er zu Staub wird“, schüttelte er den Kopf.
Der kleine Drache schälte sich aus seiner Jackentasche.
Der junge Mann setze ihn auf die offene Handfläche und hielt ihn vor den Augen.
Dieser breitete seine Flügel aus, reckte den Hals hoch, blickte ihn zuversichtlich an und sagte: „Es ist schon in Ordnung. Wir wissen um unser Schicksal vom Anfang an. Das macht uns nichts aus. Wir leben in den unzähligen Facetten der Steine weiter und wissen, dass wir wieder kommen. Wir kriegen irgendwann später einen neuen Körper und nehmen eine neue Lebensgeschichte auf.“ Er nickte zum Abschied und verschwand in der Jackentasche wieder.
„Da sind ganz schön gewaltige Opfer gefordert“, seufzte Ian. „Alle, die ich zu Anfang in der Oberwelt getroffen und ins Herz geschlossen hatte, müssen auf einmal weg.“
„Was ist mit Anna?“, fragte der alte Magier und schaute ihn aufmerksam an.
„Wie kommst du plötzlich darauf?“ Seine Stimme klang irritiert, die Brauen zusammengekniffen. „Ich weiß nicht, wo sie ist“, fügte er hinzu. „Sie sagte, sie wollte ihre Familie besuchen, wollte aber auch schnell wieder zurück sein.“
„Wenn es so ist ...“ Ernst klopfte ihm auf die Schulter. „Nun, mein Junge, es ist an der Zeit, dich allein zu lassen. Du weißt, was zu tun ist. Mit deinen Ahnen musst du allein reden. Und ganz wichtig: wenn du mit ihnen sprichst, sei du selbst, so wie du wirklich bist. Das, was du sagst, muss aus deiner Mitte kommen, deine Worte sollen deiner persönlichen Wahrheit zum Ausdruck verhelfen.“
Ian blickte verloren. „Was soll ich denn sagen?“
„Du musst ihnen einfach erzählen, wer du bist. Und schauen, was passiert“, riet er und schritt auf den schmalen Pfad, der nach unten führte.
Der Gögling nickte energisch und schlug ein paar Mal mit den Füßen.
Der Nebel war mittlerweile höher gestiegen. Die umliegenden Berge waren unter seiner dichten Decke verschwunden.
„Und Ian“, Ernst hielt an, „wenn du mich brauchst, hier, nimm das.“ Er öffnete die Faust. Auf seiner Handfläche lag eine alte Münze. Ein kleines Loch war nah am Rand eingestanzt, dadurch verlief eine fein geschmiedete Kette. „Du brauchst diese Münze nur zwischen den Fingern zu reiben. Ich weiß dann Bescheid.“
„Was ist es?“ Ian nahm sie und führte vor die Augen. Sie war kaum größer als der Nagel an seinem Daumen. Das Gold schimmerte rötlich gelb. Eine Prägung von einem fliegenden, Feuer speienden Drachen war leicht zu erkennen.
„Das ist ein Talisman, noch aus den guten alten Zeiten“, erklärte der alte Mann. „Es gab früher viele davon. Jeder Drachenmensch trug so etwas. Ich hatte die Münze mit, als ich die Oberwelt verließ. In all den Jahren war sie immer dabei. Sie ist fast ein Teil von mir geworden. Daher, wenn du mich brauchst, du weißt, was zu tun ist.“
Ian nickte und hängte die Kette um. Die Münze fühlte sich angenehm warm auf seiner Brust. Als er aufblickte, war der Magier weg.
Er sah sich um. Samtige Dunkelheit umarmte ihn. Die unzähligen Sterne, nach einem wundersamen Muster in einen schimmernden Teppich verwoben, sahen auf ihn erwartungsvoll vom klaren Himmel herab. Ian ging zum großen flachen Stein, setzte sich und ließ seinen Gedanken freien Lauf und ließ über sein Leben Revue passieren. Er dachte an die Bilder, die ihm das Weise Auge gezeigt hatte, an seine ersten Begegnungen mit Alphira und der kleinen Frau in Schwarz, an die Alte und ihre Beichte, an seinen Kumpel Thomas, den er knapp vor den Rädern des auf ihn zurasenden Lasters weggezerrt hatte und viele andere Dinge.
Er wusste nicht, wie lange er so dasaß. Mit der fortschreitenden Nacht wurde es kühler. Der Wind flaute ab. Der Mond stieg auf. Wie ein Stück junges Gouda hing er im dunkelblauen Himmel und goss sein sahniges Licht auf die kahle Kuppel.
Ian stand schließlich auf, streckte die steif gewordenen Beine, blickte hoch und atmete tief durch. Er schloss die Augen, ging gedanklich in den Berg hinein und sprach leise vor sich: „Ich bin im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit und die Zukunft sind eins. In diesem
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