Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
sie mit einem bedeutungsschweren Blick, „er muss sein wahres Leben führen wollen. Sonst wird es weder ihm noch der Oberwelt etwas Gutes bringen.“
„Dann müssen wir dafür sorgen, dass er aus seinem Schlaf erwacht. Und da könnten wir ein wenig nachhelfen. Ein paar Sachen zeigen, über sein Volk, seine Familie, seine Vergangenheit erzählen.“
„Solange er sich nicht als Teil seiner Gemeinschaft sieht, eben nicht als das, was er eigentlich ist, können wir ihm viel erzählen. Er wird sich das alles höchstens wie ein Märchen anhören und hinterher fragen, warum er es wissen soll.“
„Aber wir könnten zumindest einen Anfang machen, ihm helfen, die richtige Richtung zu finden. Woher soll er sonst wissen, wo er hingehört?“
Die Schlange nickte. „So etwas wäre denkbar. Das kann nicht schaden.“
„Schaden?“
„Nun, eine der wichtigsten Regeln lautet, er muss selbst wissen, welchen Weg er einschlägt und er sollte seine Entscheidung freiwillig treffen. Ob für oder gegen seine Aufgabe. Jemand anders darf da nicht allzu aktiv werden.“
„Ob er es schafft? Will er es überhaupt?“
„Es wäre besser, wenn du ihn selbst fragst.“
Die junge Frau starrte nachdenklich vor sich hin.
Scharta machte es sich wieder bequem an der Wand mit den Fackeln. „Ich sehe, du hast dich vorhin mit dem Buch vertraut gemacht.“ Sie sah Anna durchdringend an.
„Ich wollte eigentlich mehr über die Drachen herausfinden“, erwiderte die Jungmagierin leise und blickte verlegen auf ihre Füße.
„Was denn genau?“
„Nun, was sie so machten, wie sie waren, welche Rolle sie in der Oberwelt spielten.“
„Die wichtigsten Eckpunkte solltest du in der Tat wissen“, nickte die Schlange.
„Wenn du mir etwas dazu erzählst, wäre es prima, ich bin ganz Ohr!“, rief Anna begeistert. Sie lehnte sich an den Aufsteller mit dem Buch und richtete ihren erwartungsvollen Blick auf Scharta.
„Es ist eine lange Geschichte und ich bin müde. Ich muss mich ausruhen“, erwiderte die Hüterin des Wissens und schloss die Augen.
„Na wenigstens etwas könntest du mir verraten! Dem Buch konnte ich nicht allzu viel entnehmen. Es zeigt manchmal etwas, was ich nicht so recht einordnen kann. Erzähl mir das Wichtigste. Ich funke auch nicht dazwischen. Sag mir wenigstens ein paar Dinge.“
Scharta blickte auf und musterte die junge Frau aufmerksam. „Na gut“, gab sie schließlich auf. „Nur das Wesentliche.“ Sie legte für eine Weile den Kopf in die Schale mit dem bläulichen Feuer. Es knisterte und zischte, dutzende bunte Funken schossen hoch. Die Flamme wurde daraufhin klein und verschwand beinah gänzlich. Die Schlange wandte sich zu Anna und fing langsam an.
„Es gab viele Drachen in der Oberwelt. Sie lebten wie Menschen, und ich meine damit, sie sahen wie Menschen aus. Sie übten verschiedene Berufe aus. Viele waren Bauern und Viehzüchter, da sie Bewegung, die Natur und die frische Luft liebten. Manche waren Ärzte, denn sie erkannten schnell die Ursachen für das Leiden ihrer Patienten und konnten sie oft mit dem bläulichen Feuer heilen. Das gab es in jeder Familie. Es loderte in den Kaminen, in den Wohnzimmern oder in den Fackeln in jedem anderen Raum.
Unabhängig davon, welche Berufe sie ausübten, eines waren sie alle: treue Beschützer der Oberwelt. Wenn etwas Bedrohliches im Anmarsch war, wussten sie es meist im Voraus. Sie sammelten sich, nahmen ihre Drachengestalt an, flogen zu dem Ort des Unheils und erledigten das Problem rasch und gründlich.
Sie waren sehr traditionsbewusst und hatten viele Rituale, die sie von einer Generation zu der anderen weitergaben. Eins war besonders beliebt, auch bei den anderen Oberweltbewohnern. Zum Vollmond gab es oft eine Zusammenkunft auf der Großen Wiese hinter der Siedlung. Die Drachen stiegen in diesen Nächten hoch in den Himmel und formten mit ihren Körpern bizarre, ineinander fließende Zeichen, die kaum jemand deuten konnte. Es war der berühmte, geheimnisvolle Drachentanz. Viele Oberweltler kamen zu der Großen Wiese, um das Spektakel mit den eigenen Augen zu sehen. Manche Magier meinten, dass diese schwer erklärbaren Zeichen bestimmte Ereignisse ankündigten, ja die nahe und die ferne Zukunft voraussagten. Aber es gab nicht allzu viele, die sie treffend zu deuten wussten.
Nicht alle, die zum Drachengeschlecht gehörten, nahmen an solchen Ereignissen teil. Die Kleinen, die noch nicht so weit waren, die Frauen, die auf sie aufpassten oder diejenigen, die
Weitere Kostenlose Bücher