Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
kamen kaum höher als der Rand.
Als Anna sich aus dem Durchlass befreite und auf den Boden heruntersprang, wandte sie sich ihr zu. Ihre Augen schienen von einem leichten milchigen Schleier überzogen. Es dauerte etwas, bis sie ihren Blick auf die Besucherin fokussieren konnte, dann nickte sie leicht zu Begrüßung.
„Hallo Scharta, wie geht es dir?“ Die junge Frau ging auf sie zu und streichelte ihr über den Hals.
„Es wird so langsam“, gab die Schlange leise zurück und wartete ab, bis der Schleier sich allmählich lichtete. „Etwas sagt mir, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist.“
„Du hast es erkannt“, nickte Anna, ging zu der Fackel, wo sie den kleinen Drachen gelassen hatte und spähte in die Schale hinein. Er lag immer noch da, die Augen geschlossen, die Flügel fest an den Körper gepresst. „Er schläft“, flüsterte sie lächelnd.
„Er braucht Erholung.“ Die Schlange legte den Kopf auf einen ihrer hochgestellten Ringe und sah sie fragend an.
Die Jungmagierin lief wieder zurück, stellte sich vor ihr und sagte: „Ich habe nachgedacht. Selbst wenn dieser Junge, Ian, der Letzte aus dem Drachenvolk ist, wie könnte er weiter helfen? Er ist allein. Und wir brauchen Unmengen vom Drachenfeuer.“
Die Hüterin des Wissens fuhr ihren Kopf direkt vor Annas Augen.
Die Jungmagierin konnte alle Schuppen um das Maul der Schlange bis ins Kleinste sehen. Oben schimmerten sie silbern, unten am Kinn, dem Hals und dem Bauch wurden sie noch heller und glänzten perlmuttweiß.
Die rote Zunge blitzte plötzlich aus dem Maul und verfehlte nur knapp ihre Nase. „Höre mir jetzt gut zu!“ Ihr Zischen klang eindringlich. Jedes Wort schrieb sich im Kopf der jungen Frau fest. „Das Geheimnis um diesen Jungen darf nicht in die falschen Hände geraten. Daher solltest du lieber deine Gedanken ordentlich schließen, wenn du über ihn nachdenkst. Hier bei mir brauchst du es nicht. Dieser Raum ist in der Hinsicht gut geschützt. Aber wenn du da draußen bist, vergiss nicht, deine Gedanken so abzuriegeln, dass selbst erfahrene Einbrecher es nicht schaffen, sie zu bekommen.“
Anna machte große Augen, blinzelte ein paar Mal hintereinander. „Es ist aber verboten, in die Gedanken anderer ohne ihre Erlaubnis einzudringen. Das ist eine feste Regel der Oberwelt. Das weiß jeder. So etwas macht man doch nicht!“
„Zu wissen ist das eine, aber die Regeln zu befolgen ist etwas ganz anderes. Und es gibt manche …“, die Schlange nahm ihren Kopf zurück, wiegte ihn nachdenklich von einer Seite zur anderen, „Kräfte“, brachte sie schließlich, „die allzu gerne mehr über den Drachenjungen wüssten. Daher ist es besser, wenn du dieses Geheimnis gut hütest, damit nichts passiert, was dir und deinen Plänen abträglich wäre. Sonst ist die letzte Hoffnung auf die Auferstehung der Oberwelt in großer Gefahr.“
„Ich werde daran denken“, nickte Anna und atmete tief durch. Die gelbe Telleraugen, die wie Projektoren leuchteten, so nah vor dem Gesicht zu haben war recht anstrengend. „Aber wer ist es, der es nicht scheut, das Gesetz zu brechen und die Gedanken anderer zu stehlen? Das ist doch unerhört!“
„Dieser jemand hat schon viele von den Regeln der Anderen Welt gebrochen. Das Eindringen in die Gedanken anderer, selbst wenn sie geschlossen und geschützt sind, ist für diese Person ein Leichtes und überhaupt kein Grund zur Zurückhaltung, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Pass also gut auf!“
„Gut“, nickte die junge Frau. „Das werde ich tun.“ „Du wolltest mir noch etwas von dem Drachenjungen erzählen“, riet sie auf gut Glück.
Die Hüterin des Wissens legte ihren langen Körper in breiten Ringen übereinander, stellte einen davon quer, legte ihren Kopf darauf, sah sie mit einem bedeutungsschweren Blick an und verkündete: „Der Junge kommt aus einer alten Drachenfamilie, deren Geschichte sich über vierundzwanzig Generationen zurückverfolgen lässt. Er gilt als einer der wenigen Überlebenden von jener unglücklichen Nacht. In manchen Überlieferungen heißt es, dass er den Zugang zur ganzen Kraft der Drachen in sich trägt.“
Beeindruckt von Schartas Worten, schwieg Anna eine Weile, sagte dann leise: „Wer den Jungen kriegt, der hat also gewonnen.“
„Ja und nein. Es ist nicht so einfach“, erwiderte die Schlange, als ob sie ein kleines Kind belehrte. „Die Tradition im Drachenvolk setzt voraus, dass der Junge seinen eigentlichen Weg einschlägt. Nur dann ist
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