Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Vogelgezwitscher füllte die klare Morgenluft. Die aufgehende Sonne schien durch die dichten Zweige der ausladenden Tannen und überzog alles mit einem leichten Goldschimmer. Frischer Wind rauschte durch den Wald und ließ das Laub flüstern. Er brachte die letzten Neuigkeiten, was sich so alles in der Nacht ereignet hatte. Es ist wie früher! Wie schön! Die Eulen, die nachts über den Wald und die Wiesen wachten, zogen sich langsam zurück. Bussarde lösten sie für den Tag ab. Sie kreisten in dem tiefblauen Himmel und warfen einander ihre schrillen Rufe zu. Anna blickte hoch und sah ihnen nach. Sie konnte deutlich die weißen Streifen auf den Innenseiten ihrer Flügel sehen.
Leises Knacken der trockenen Zweige riss sie aus der Beobachtung heraus. Ein Grüppchen von Rehen sprang durch das Unterholz. Die scheuen Tiere verschwanden hinter den jungen Tannen, sobald sie entdeckten, dass jemand auf sie schaute. Die Jungmagierin schmunzelte, als sie zusah, wie schnell ihre weißen Hinterteile im Wald verschwanden. Sie schloss die Augen und atmete tief die frische Luft ein. Sie roch nach feuchter Erde, dem vom nächtlichen Regen sauber gespülten Laub und Kiefernnadeln. Dazu mischte sich eine feine honigsüße Note. Herrlich! Sie blickte auf und suchte nach deren Quelle. Die Blumen! Dutzende weiße Blütenköpfe säumten den Pfad, der sich ein Stück weiter aus dem Wald hinaus schlängelte. Sie folgte ihm und fand sich bald auf einer großen Wiese, die sich vom Waldesrand bis zum Teich erstreckte. Seine stille Oberfläche schimmerte dunkelgrün, da er noch im Schatten lag. Anna schritt durch die bunten Gräser, genoss den eigenartigen, etwas herben Duft und lächelte zufrieden vor sich. Kaninchen huschten ihr vor den Füßen. Auch sie freuen sich über diesen wunderbaren Morgen. Es wird wohl ein herrlicher Tag.
Leises Rascheln, das nicht so recht zu dem Bild passte, ließ sie rasch um sich blicken. Sie war wieder in Schartas Kammer vor dem dicken alten Buch, dessen Seite sich gerade umlegte. „Kannst du mir etwas zeigen, das mit dem letzten Drachen zu tun hat?“
Das Buch fing an, die Seiten schnell zurückzublättern. Schließlich hielt es an einer Stelle an und neue Bilder erschienen auf der welligen, vergilbten Oberfläche.
Sie sah eine grüne Frühlingswiese, die ein Stück weiter hinten an einen gemischten, hellen Wald grenzte. Ein Bursche in ihrem Alter, schmal und drahtig, bewegte sich leichten Schrittes auf einem schmalen Pfad durch das hohe Gras. Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne zwangen ihn die Augen zusammenzukneifen. Seine kräftige, mit Sommersprossen übersäte Nase zeichnete sich deutlich zwischen den hohen Wangen ab. Die rotblonden lockigen Haare, zu einem kurzen Zopf im Nacken gebunden, glänzten golden. Er näherte sich einem Holzhäuschen, dessen Hinterseite am Waldesrand zu kleben schien. Rasch übersprang er die drei morschen Treppen, atmete tief aus, stellte die Schultern gerade und zog mit einem Ruck die Tür auf. Ein lautes, in die Länge gezogenes Quietschen kündigte seine Ankunft an. Er musste sich bücken, um unter dem niedrigen Balken durchzukommen.
Innen war es recht dunkel. Als die Augen sich an die Düsterheit gewöhnt hatten, sah Anna eine großgewachsene, hagere Frau in der hinteren rechten Ecke am alten, aus Ziegelsteinen gelegten Ofen stehen. Sie rührte energisch in einem hohen Topf, der auf der vorderen von drei breiten, gusseisernen Platten stand. Die Luft war warm und feucht. Es roch nach getrockneten Kräutern, Holz und altem Zigarettenrauch. Schwaches Licht aus dem kleinen Fenster links vom Eingang fiel auf einen rechteckigen Tisch aus dunkler Eiche und zwei schwere Stühle. Die breiten, grob verarbeiteten Bodendielen knarzten unter den Schritten des jungen Mannes. Er nickte kurz, zog ein dünnes Bündel, das von einem Gummiring zusammengehalten wurde, aus seiner Brusttasche und ließ es über den Tisch gleiten. „Der Lohn“, murmelte er, zog einen Stuhl von unter dem Tisch geräuschlos hervor und setzte sich.
Die Frau hörte auf zu rühren, schob den Topf auf die Ecke, eilte zum Tisch, griff das Bündel und zählte rasch die Scheine nach. „Es ist weniger als sonst! Was hast du mit dem Geld gemacht?“ Ihre Stimme hörte sich wie ein rostiges, altes Rad an. Die hysterische Note ließ den ersten Anflug von Antipathie bei Anna aufsteigen.
„Ich habe nichts damit gemacht“, erwiderte der Bursche ruhig. „Konnte ich ja auch nicht. Ich habe es gar nicht
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