Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
sah zu den Regalen mit dicken, vergoldeten Einbänden, als wenn er dort das passende Wort ablesen könnte, „ungewöhnlich“, brachte er schließlich. „Sie war nicht wie die meisten Frauen, wie etwa die, die bei uns in der Firma arbeiten oder die man so auf der Straße sieht. Aber es war nicht das Aussehen, es ging von ihr etwas aus, das mich faszinierte.“
Anna blickte ihn fragend an, eine Augenbraue hochgezogen.
„Sie hatte etwas Besonderes an sich“, erklärte er und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
„Inwiefern?“
Er zögerte, leerte seinen Tee. „Gut, ich sage es dir“, seufzte er schließlich. „Aber nur weil du es bist.“
„In Ordnung“, schmunzelte die junge Frau.
„Sie klang anders“, murmelte er.
„Klang?“
„Nun“, er lächelte verlegen. „Es ist mein Ausdruck dafür. Für mich klingen manche Leute oder Orte. Es ist einfach eine Art, wie ich manche Dinge wahrnehme.“
„Aha.“ Sie musterte ihn interessiert. „Und wie war der Klang dieser Frau?“
Ian schloss die Augen, schwieg eine Weile, dann sagte leise: „Es war eine Mischung aus Stärke, Weisheit, Würde und …“, er runzelte die Stirn, „Müdigkeit oder Traurigkeit oder Ausweglosigkeit oder eben aus allem zusammen.“
Anna lächelte, ihre Mundwinkel zogen sich aber dabei nach unten. „Wenn du hier fertig bist“, sie blickte auf den Tisch, „mache ich dich mit jemandem bekannt.“
Nach dem Frühstück führte sie Ian in ein helles, geräumiges Eckzimmer mit weißen Wänden und zwei großen Fenstern. Auf einem schmalen Himmelbett lag die ältere Frau. Ihr fahles Gesicht schimmerte grau, ihre dünnen Arme bis zu den Handgelenken von den Ärmeln ihres weißen Kleides aus weicher Baumwolle verdeckt, lagen über einer alten Decke mit Mond und Sternen.
Ian stockte der Atem. Er blinzelte paar Mal, räusperte sich und fragte dann: „Ist sie etwa …?“
„Nein“, Anna schüttelte energisch den Kopf. Sie ging zu ihr, strich die Decke glatt, nahm ihre schlaffe Hand und sagte leise: „Aber es fehlt nicht mehr viel, fürchte ich.“
„Was hat sie?“ Sein Blick glitt von den Gesichtszügen, die von unzähligen Fältchen bedeckt waren, zum weißen stumpfen Haar.
„Ich weiß es nicht so genau. Sie stirbt langsam, das ist alles, was ich weiß“, flüsterte Anna und setzte sich auf die Bettkante.
„Kann man etwas dagegen tun?“ Er stellte sich links von ihr.
„Das muss man.“ Ihre Stimme hörte sich plötzlich fest an. „Und je eher man damit anfängt, desto besser.“
Ian musterte nachdenklich das Gesicht der alten Frau.
Anna beugte sich vor, küsste sie auf die Wange, erhob sich und sagte: „Komm, ich zeige dir, was aus der anderen Schönheit geworden ist.“
Sie kehrten zurück ins Wohnzimmer.
„Hier“, sie warf ihm etwas, das wie ein langer Regenmantel aussah. „Zieh dir das über“, verlangte sie. „Wir gehen kurz nach draußen.“ Sie zog einen wetterfesten Überwurf mit Kapuze an, öffnete die Eingangstür und schritt hinaus. Er folgte ihr.
Es war dunkel und nebelig. Die feuchte Kälte fing nach den ersten Schritten an, mit stumpfer Beharrlichkeit in die Knochen zu kriechen. Sie gingen auf einem mit Kies bestreuten Weg. Bis auf einige tote Bäume am Rand, die einen stehend, die anderen liegend, war nichts mehr von der Umgebung zu erkennen.
Ian schnupperte an der Luft. „Das riecht hier aber seltsam. Nach Schwefel und wie … nach faulen Eiern.“
Anna lief einige Schritte vor ihm, ohne ein Wort zu verlieren.
Eine Weile gingen sie schweigend. Der Nebel wurde dichter. Er schob sich auf einmal schnell in dunkelgrauen Schwaden quer über den Weg. „Das sieht hier wie Unterwelt aus“, sagte er schließlich.
„Du hast auch viel Ahnung von der Unterwelt!“ Ihre Stimme klang gedämpft, die Verärgerung hörte sich dennoch deutlich heraus.
„Das nicht, aber die Andere Welt hätte ich mir so nicht unbedingt vorgestellt.“
Die junge Frau stoppte abrupt und drehte sich um. Ian blickte auf sie fragend herunter.
„Sie war früher auch anders, ganz anders. Die Oberwelt war atemberaubend schön.“ Ihre Augen blitzten zornig auf. „Aber dann …“, sie wandte sich schnell von ihm weg und blickte in die Nebelschwaden. „So sieht es in der letzten Zeit immer aus“, seufzte sie.
„Es ist wie manchmal im November bei uns. Dann haben wir es oft trist, grau, feucht und kalt. Der Nebel bleibt im Tal manchmal tagelang hängen.“ Er stand dicht hinter ihr und sah in die gleiche
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