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Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Ich sprang auf und presste die Hand aufs Herz. Einen Augenblick später hörte ich das vertraute Trappeln von Hufen näher kommen. Ich packte meinen Wasserschlauch weg, verschnürte mein Bündel und wartete, dass meine Hände zu zittern aufhörten. Beruhig dich. Hier will dir niemand etwas Böses. Und vielleicht bringt diese Herde einen Schäfer, der Verwendung für deinen starken Rücken hat.
    Ich beugte mich vor und spähte vorsichtig durch die Blätter. Vier struppige Ziegen mit beeindruckenden Hörnern zuckelten den Pfad hinauf, gefolgt von einem Hirten.
    Er hatte dunkle Haut, dunkler als meine, und über seine wirren schwarzen Locken war eine leuchtend rote Kappe gestülpt. Er mochte ein, zwei Jahre älter sein als ich, also achtzehn oder neunzehn, hatte breite Schultern und wirkte gesund und kräftig. Leichtfüßig bewegte er sich über den unebenen Boden, in der Hand einen hölzernen Kampfstock, mit dem er seine Herde führte. Ich verzog das Gesicht. Er brauchte bestimmt keine Hilfe von mir. Aber ich hatte mir sowieso angewöhnt, jungen Männern aus dem Weg zu gehen, vor allem solchen, die allein unterwegs waren. Knorrige Alte mit grauen Haaren und krummem Rücken waren sicherer.
    Ich wartete ungeduldig, dass er weitergehen würde, doch seine Schritte waren langsam und er schlenderte über den Pfad, als wäre er in Gedanken versunken.
    In der kühlen, schattigen Höhle des Blattwerks spürte ich meine Lider schwer werden. Ich war erschöpft von den Wochen des Umherwanderns. Gleich würde ich einschlafen und den halben Tag vergeuden. Um die Schläfrigkeit zu vertreiben, zwang ich mich, die Augen weit aufzureißen – und sah in dem Gestrüpp unterhalb des Pfades etwas aufblitzen.
    Ein kalter Schauder überlief mich. Mein Blick jagte über den Hang, dem Glitzern nach – glänzendes Metall, das sich verstohlen durchs Unterholz bewegte. Die Form war unverkennbar.
    Ein Messer.
    Jetzt, da ich es entdeckt hatte, konnte ich auch den Mann, der es hielt, teilweise erkennen. Er sah mager und abgerissen aus und trug eine verbeulte, zusammengestückelte Rüstung. Seine Haut war sehr bleich und sein Haar gelblich, beides fettig und voller Schmutz. Und er war nicht allein. Ein Stück den Pfad entlang versteckte sich ein weiterer Mann hinter einem Baum. Dieser hielt ein Schwert.
    Bevor ich in die Berge gegangen war, hatte ich einen Tag auf einem Hof an der Grenze gearbeitet und die Nacht dort auf dem Heuboden verbracht. Die Bauersfrau hatte mich gewarnt, dass sich in den Ruabergen viele Aufständische herumtrieben, die nach dem Bürgerkrieg von der ruanischen Königin in die Verbannung geschickt worden waren. Die Männer waren früher Soldaten gewesen. Nun waren sie Diebe und Räuber. Doch auch ohne diese Warnung war ich in meinem Leben schon genug Menschen begegnet, die mir Schaden zufügen wollten, um die gierige Anspannung in den Körpern dieser Männer, die Verbissenheit auf ihren Gesichtern zu deuten.
    Sie würden dem Ziegenhirten auflauern. Seine Tiere stehlen. Ihn töten.
    Bleib ruhig. Kämpf nicht. Halt dich raus.
    Das hier ging mich nichts an. Der Ziegenhirte war ein Fremder. Er war mir gleichgültig. Wären unsere Rollen vertauscht, würde er sich nicht um mein Schicksal scheren.
    Halt dich raus. Kämpfe nicht.
    Ich schloss die Augen. Es half nichts. Die Bilder waren in meinem Kopf und ich konnte ihnen nicht entkommen. Ich sah das Gesicht meiner Mutter: kalt wie Lehm, die Augen trübe und von einem Schleier überzogen, um ihren Mund getrocknetes Blut und Schaum. Der Körper eines halbwüchsigen Jungen, im Laub ausgestreckt, sein Gesicht zerfleischt. Ich sah meine eigenen blutverschmierten Hände. Priester, die mit kaltem, selbstgerechtem Gesichtsausdruck nicht angezündete Fackeln hielten. Zwei Jungen mit höhnischen Gesichtern, durch die Luft fliegende Steine. Ich sah meine Vergangenheit.
    Ich sah Tod.
    Als ich auf die fröhliche rote Kappe des Ziegenhirten hinunterblickte, erfasste ein leises Zittern meinen Körper.
    Halt dich raus.
    Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.
    Ich kann nicht zusehen, wie er stirbt.
    Ich bin seine einzige Hoffnung.
    Meine Finger zerrten an dem Sackleinen, das ich um die Axt gewickelt hatte. Der Ziegenhirte war nun fast unter mir. Der Räuber vor ihm setzte zum Sprung an.
    Der Ziegenhirte blieb stehen. Er drehte sich um und packte eines der Tiere, das seitlich den Hang hinaufirrte, an den Hörnern. Als er es auf den Pfad zurückzog, trat der Wegelagerer mit erhobenem Schwert

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