Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
auch darüber keine Gedanken. Wir achten aufeinander und sehen es nicht gern, wenn einer von uns bei anderen in der Pflicht steht. Wenn es soweit ist, werden wir an Ihre Gläubiger herantreten und sämtliche Verbindlichkeiten übernehmen. Sie zahlen an die Kanzlei zurück. Aber das alles wird noch in Ruhe zu besprechen sein. Ich erwähne das Ganze nur, um Ihnen deutlich zu machen, wie viel Sie noch von uns erwarten können.“
„Ich fühle mich überaus geehrt. Ich werde mich dessen würdig erweisen.“
Hawthorne donnerte den Gehstock auf die gläserne Schreibtischplatte, die klirrend bis zur Hälfte des Tisches riss. Das eisige Feuer, das ich schon das eine oder andere Mal gesehen hatte, loderte in seinen Augen auf.
„Und wie erklären Sie sich dann Ihre derzeitigen Arbeitsergebnisse? Täuschen Sie sich nicht! Ich bin genauestens darüber informiert, was hier vor sich geht. Über Sie ganz besonders. Sie sind mein ganz besonderes Projekt. Das waren Sie von Anfang an. Sie haben das Zeug, Ethan. Das Potenzial, hier alle zu übertreffen. Jack, die anderen Partner, ja vielleicht werden Sie sogar eines Tages an meine Stelle treten, wer weiß. Aber was muss ich hören? Was sagen mir die Leute, denen ich vorschwärme von Ethan Meyers? Seit Ihrer Rückkehr sind Sie launisch, aufbrausend und unkonzentriert, nicht bei der Sache. Es scheint Ihnen mit einem Mal vollkommen gleichgültig zu sein, was hier passiert. Sie kommen mit der Arbeit nicht hinterher und ihre Arbeitsergebnisse bleiben weit hinter dem zurück, was man von Ihnen gewohnt ist. Was ist los mit Ihnen, Ethan? Seit Sie aus diesem Kaff zurück sind, stimmt etwas nicht.“
Resigniert sank ich in meinem Sessel zusammen.
„… ein Mädchen … ich liebe sie und doch …“
Meine Stimme versagte. Ich stützte den Kopf in die Hände und blieb stumm. Was sagte ich da? Ich musste verrückt sein, Hawthorne mit meinen privaten Problemen zu behelligen. Er war der Letzte, von dem ich Verständnis oder gar Trost erwarten konnte. Er würde nun auf der Stelle mein Büro verlassen und seine Meinung von mir revidieren. Aber es war mir gleichgültig. Es musste einfach heraus. Er hatte danach gefragt und er musste die Antwort hören. Ich musste hören, wie die Antwort ausgesprochen wurde, musste sie in die Welt hinaus schreien.
„Ein Mädchen, mein Junge? Liebe? Das ist es? Das ist alles? Und ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“
Er ging zum Sideboard und füllte zwei Gläser mit Bourbon. Merkwürdig, ich hätte schwören können, die Flasche wäre vor meiner Abreise nach South Port noch nicht da gewesen.
„Nehmen Sie, Ethan. Er wird Ihnen gut tun.“
Er selbst nahm einen Schluck und ich tat es ihm nach. Der Whiskey brannte meine Kehle aus. Mit einem Zug leerte ich den Rest des Glases. Eine betäubende Wärme breitete sich in mir aus. Der Gedanke an Annabell war schon nicht mehr ganz so schmerzlich wie zuvor.
„Die Liebe ist eine Illusion.“ Hawthorne formte jedes Wort mit Hingabe und ließ es genussvoll auf seiner Zunge zergehen. Er schenkte mir nach. Ich nahm einen weiteren Schluck und versenkte mich ganz in seine melodische Stimme:
„Auch ich, mein Freund, war einmal jung. Jung und dumm. Ich traf ein Mädchen, die Tochter eines Geschäftspartners meines Vaters. Eine Debütantin. Ein Mädchen mit Augen so geheimnisvoll wie goldener Honig und Lippen so rot wie Rosenknospen im Morgentau. Ich war verliebt. Sie war verliebt. Die Hochzeit ließ nicht lange auf sich warten. Doch, Ethan! Die Erfahrung meiner vielen Jahre ist eine andere: Wenn ich heute, bei den unausweichlichen gesellschaftlichen Anlässen, in das Gesicht der alten Frau sehe, die in dem Zimmer auf der anderen Seite meines Hauses schläft, frage ich mich, ob ich das ganze nur geträumt habe. Ich sehe blasse Augen von totem Nussbaum, die hängenden Lider künstlich gestrafft. Der runzelige Mund mit den bitteren schmalen Lippen und das eingefallene Gesicht chirurgisch geglättet. Es ist kaum zu ertragen.
Was ich damit sagen will, ist: Die Natur ist klug. Sie hat es so eingerichtet, dass wir uns verlieben. Es sind die Hormone. Aber es ist die Gesellschaft, die uns in zahlreichen Büchern und Filmen vorgaukelt, zwei Menschen könnten füreinander bestimmt sein, um im ewigen Glück zu leben. Die Wahrheit ist: Die Frauen haben sich diese Geschichten ausgedacht, damit sie versorgt sind, wenn ihre Kinder zur Welt kommen und auch später, wenn ihre Schönheit und Jugend vergangen sind. Dem Staat ist es nur
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