Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
starke Bedürfnis, mich zu rechtfertigen.
„Ich hatte mich schon am Montag zurückmelden wollen, aber Ihre Sekretärin sagte, Sie wären für ein paar Tage in New York.“
„Ja, das ist richtig. Ich bin erst seit heute Nachmittag zurück. Ich nehme an, Prime Hill Capital sagt Ihnen etwas? Ein neues Mandat im Investmentbereich. Unseren Leuten in New York erschienen ein paar Streicheleinheiten und freundliche Worte von meiner Seite angebracht.“
In Wahrheit dürften die Leute in New York in dieser Frage keinen großen Spielraum gehabt haben. Wenn die Kanzlei auch dezentral organisiert war und die einzelnen Standorte von den Partnern vor Ort verwaltet wurden, legte Hawthorne, der seit Westburys Tod und Clarkes Ausscheiden das größte Anteilspaket hielt, doch Wert darauf, überall von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen und neue Mandanten zumindest dann persönlich willkommen zu heißen, wenn sie größere Honorare versprachen.
„Ethan, mein Besuch bei Ihnen erfolgt nicht ganz zufällig. Während der kurzen Zeit, die Sie in diesem Nest verbracht haben, ist uns allen hier deutlich geworden, wie sehr wir Ihre Mitarbeit schätzen.“
„Vielen Dank, Sir. Ich bin …“
„Das ist noch nicht alles“, schnitt er mir das Wort ab. „Ich habe die übrigen Partner davon überzeugen können, dass es klug wäre, uns Ihrer dauerhaften Treue zu versichern. Ich bin ermächtigt, Ihnen die Partnerschaft bei Westbury Hawthorne & Clarke mit Ablauf des Jahres konkret in Aussicht zu stellen. Sie würden an die Stelle von Jack Davis treten. Jacks Partnerschaft wurde vor zwei Tagen von uns gekündigt.“
Es war soweit. Das, was ich herbeigesehnt hatte, der Moment, auf den ich so lange hingearbeitet hatte, war da.
„Ich bin sprachlos. Ich bin vollkommen überrascht.“
„Das sollten Sie sein. Sie wären der jüngste Partner, den wir jemals aufgenommen haben.“
Ich war tatsächlich sprachlos. Die Situation fühlte sich unwirklich an.
Doch da war noch ein anderes Gefühl, das immer stärker zutage trat, je weiter die Überraschung dem Verstehen wich: Enttäuschung.
So viele Male hatte ich mir ausgemalt, wie dieses Gespräch ablaufen würde. Ich hatte mir vorgestellt, Hawthorne würde mich in sein Büro bitten oder zu einer Versammlung der Partner und würde mir im Rahmen einer Feierstunde die freudige Mitteilung machen. Es würde eine Laudatio geben, Champagner vielleicht. Aber nun saß er hier, kam unangemeldet vorbei und sprach die magischen Worte geradezu beiläufig aus.
Doch das war es nicht allein. Die Vorstellung, hier Partner zu sein, in Jacks Fußstapfen zu treten und für den Rest meines Lebens in den Büros und Konferenzräumen der Kanzlei zu verbringen erschien mir mit einem Male unannehmbar, beängstigend. Ich fühlte mich eingeschnürt. Der Hemdkragen wurde mir eng. Ein Betonklotz senkte sich einmal mehr auf meine Brust nieder.
Der Gewinnanteil und all die weiteren Vorteile, die die Partnerschaft mit sich brachte, wie das Ansehen in Kanzlei und Gesellschaft oder Mitgliedschaften in renommierten Clubs und Vereinigungen, um die ich Jack und die anderen Partner früher beneidet hatte, kamen mir heute bedeutungslos vor. Wie hatte ich sie für so erstrebenswert halten können? Alles, wonach ich mich jetzt mit ganzem Körper und mit ganzer Seele sehnte, war Annabell. Annabell, die ich erst seit einer lächerlich kurzen Zeitspanne von rund einer Woche kannte. Annabell, meine Schwester, die ich niemals würde haben dürfen.
War es immer so, wenn man ein Ziel erreichte, etwas in Besitz nahm, das vorher unerreichbar schien? Waren nicht stets die Dinge nur solange reizvoll, wie man sie nicht hatte? Galt diese Gesetzmäßigkeit auch für Annabell?
Hawthorne schien meine Reaktion zu missdeuten.
„Die Partnerschaft kommt wie Sie wissen nicht geschenkt. Wir sind ein exklusiver Club, wenn Sie so wollen. Der Eintrittspreis wird im siebenstelligen Bereich liegen. Aber Sie werden den Betrag über Ihren Gewinnanteil finanzieren. In zehn, fünfzehn Jahren, je nachdem, wie ihre Boni ausfallen und wie viel Sie jedes Jahr abtragen, haben Sie das Ganze hinter sich und konnten dabei noch hervorragend leben. Wissen Sie aus dem Stand, auf was sich Ihre privaten Schulden belaufen, Ethan?“
Woher wusste er von meinen Schulden?
Ich dachte kurz nach: „Es müssten ungefähr 130 sein.“
Er zog die Augenbrauen hoch.
„Nach den mir vorliegenden Informationen sind es fast 170.000 Dollar. Peanuts, wie man so sagt. Machen Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher