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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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mehrfach versucht, mich zu erreichen. Doch ich ließ ihn nicht zu mir durchstellen. Ich zögerte auch hier. Aus Feigheit? Ich weiß es nicht. Am Dienstag jedenfalls überwog meine Sorge um das Wohlergehen Annabells diese Regung. Zwischen einer Besprechung wegen der Restrukturierung eines Mischkonzerns, der sich von seiner europäischen Lebensmittelsparte trennen wollte, und einer Telefonkonferenz mit dem Leiter der Steuerabteilung eines namhaften Automobilzulieferers aus Detroit hatte ich einen erschöpft klingenden McCandle am Ohr. Da er gewusst hatte, dass ich am Montag in Boston sein würde, hatte er Annabell besucht.
    „Was ist bei Ihnen beiden vorgefallen, mein Sohn? Ihre Schwester ist wie ausgewechselt. Sie wirkt abwesend, spricht kaum ein Wort. Sie will nichts essen – ich wollte sie und den Richter zu einem herrlichen Barbecue einladen. Sie hat abgelehnt, ist das zu fassen?“
    Nein, das ist unglaublich, wollte ich entgegnen. Jemand der sich eine solche Gelegenheit entgehen ließe, müsste ernstlich gestört sein.
    „Sie will niemanden sehen“, fuhr er fort. „Sie hat mich doch tatsächlich mehr oder weniger aus dem Haus gewiesen, weil sie allein sein wollte.“
    Auch das ist nicht zu glauben. Wer, der klaren Verstandes war, würde auf die Gesellschaft dieses Dozenten der Heiligkeit schon freiwillig verzichten? Aber die bittere Botschaft ließ mir den Zynismus im Halse stecken bleiben. Seine Worte waren Dolchstöße in mein blutendes Herz.
    „So etwas kennt man gar nicht von ihr.“ McCandle schnaufte vernehmlich. Die Angelegenheit machte ihm zu schaffen. „Als ich auf Sie zu sprechen kam, sagte sie nur, Sie seien gegangen, und brach in Tränen aus. Mehr war nicht aus ihr heraus zu bekommen. Was ist denn bloß los? Ich mache mir ernsthafte Sorgen um das Mädchen.“
    Ich konnte seinen Schilderungen nicht länger folgen. Wie es mir selbst ging, war schlimm genug. Zu wissen, dass es Annabell nicht besser ging, war unerträglich.
    „Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Nichts weiter“, log ich. „Ich muss in dieser Woche einiges aufarbeiten und kann daher nicht für die Nacht nach South Port kommen. Sie können sich nicht vorstellen, wie die Arbeit in einer Kanzlei wie der unsrigen aussieht. Hier kann man nicht einfach so um 17.00 Uhr den Stift fallen lassen.“
    „Aber …“, wollte er etwas einwenden, doch ich schnitt ihm das Wort ab.
    „Ich wäre Ihnen dankbar, Reverend, wenn Sie ein Auge auf Annabell hätten. Halten Sie mich auf dem Laufenden, in Ordnung?“
    „Sicher, aber ich bin der Ansicht, dass …“
    „Vielen Dank, Reverend. Ich muss jetzt zu einem Meeting. Wir bleiben in Verbindung. Auf Wiederhören.“
    Ich legte den Hörer auf, lehnte mich in meinem Sessel zurück und fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und durch meine Haare. Was sollte ich machen? Ich konnte nichts tun. Irgendwann würden wir beide uns an die Situation gewöhnen. Man gewöhnt sich doch an alles?

43.      Kapitel

 
 
    Nach einem Tag, der mir das Letzte an Energie abzuverlangen schien, das mir noch geblieben war, saß ich, wie geschildert, mit schmerzenden Augen vor dem Bildschirm meines Computers und brütete über einem steuerrechtlichen Problem, das sich partout einer Lösung entzog. Möglicherweise lag die Schwierigkeit darin, dass ich meine geistige Kapazität vollständig darauf konzentrieren musste, nicht über Annabell nachzudenken.
    Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als die offene Glastür meines Büros unter metallenen Schlägen markerschütternd erzitterte. Hawthorne stand im Türrahmen und klopfte drei Mal mit dem Messingknauf seines Gehstocks gegen die zurückschreckende Scheibe.
    „Mr. Hawthorne, guten Abend!“
    Eilig erhob ich mich aus meinem Ledersessel.
    „Guten Abend, mein Junge. Guten Abend.“
    „Was kann ich für Sie tun, Sir?“
    Hawthorne musterte mich und ich spürte, wie meine Kehle augenblicklich trocken wurde.
    „Ich wollte nur ein wenig mit Ihnen plaudern und Sammy sagte mir, dass Sie noch da wären.“
    Sammy gehörte zur Spätschicht der Gebäudesicherheit.
    „Darf ich?“
    Hawthorne nahm in einem der Besucherstühle Platz. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken, als seine Augen auf mir verweilten, skalpelgleich Schicht für Schicht meiner Erscheinung zerlegten und sich tief in mein Innerstes zu bohren schienen.
    Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr, dass ich Gelegenheit hatte, mit Hawthorne zu sprechen, und ich verspürte das

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