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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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diese Vereinbarung? Ich arbeite an keiner wissenschaftlichen Abhandlung.“
    „Sie enttäuschen mich Meyers. Ich hätte erwartet, Sie wüssten es wenigstens zu schätzen, dass ich Ihnen keine Kündigung vorlege.“
    „Kündigung?“
    „Sie können sich glücklich schätzen, dass ich nach wie vor überzeugt bin, dass Sie zu etwas taugen. Jeder andere wäre angesichts der Qualität der Arbeiten, die Sie in letzter Zeit abgeliefert haben längst nicht mehr hier. Ja, meinen Sie denn, ich bekomme nicht mir, was hier vorgeht? Sie erledigen Ihre Aufgaben nicht oder mangelhaft, Kollegen tuscheln über Sie, wir haben einen wichtigen Prozess verloren, weil Sie nicht vorbereitet waren. Mandanten beschweren sich, Meyers. Ich habe die anderen Partner überzeugt, dass wir Ihnen nach einer kleinen Pause ein zweite und letzte Chance geben.“
    Er hatte mit allem Recht, was er vorbrachte. Doch er hatte den falschen Zeitpunkt gewählt. Außer Annabells Genesung war mir fast alles egal. Statt für meine Fehler die Verantwortung zu übernehmen, ging ich in die Offensive:
    „Wie großzügig von Ihnen. Sie wissen genau, ich würde eine horrende Abfindung einklagen. Das ist es doch, worum es hier geht. Sie wollen mir die Freistellung unterjubeln, um mich dann besser los zu werden.“
    „Meyers, es reicht. Ich habe kein Verständnis für Ihr Verhalten.“
    „Nein, Sir.“
    Ich betonte das ‚Sir‘ verächtlich. Mir entglitt, die Kontrolle. Mit jedem Wort hatte ich mich mehr in Rage geredet. Der angestaute Zorn und die Verzweiflung der letzten Tage brachen sich Bahn und ergossen sich über Hawthorne.
    „Das haben Sie tatsächlich nicht. Sie haben überhaupt kein Verständnis und Sie geben sich auch keine Mühe. Es interessiert Sie nicht, warum sich jemand in einer bestimmten Weise verhält. Für diese zwischenmenschlichen Aspekte haben Sie nichts übrig. Sie wollen keine Menschen. Sie wollen funktionierende Maschinen.“
    „Meyers!“ Er erhob sich von seinem Sessel, denn ich war aufgesprungen und schrie auf ihn ein:
    „Aber diese Maschine funktioniert nicht mehr so wie Sie wollen. Ich bin defekt. Und wissen Sie warum? Nicht durch die Arbeit, so wie Jack. Da muss ich Sie enttäuschen. Es ist meine Schwester. Während Sie hier von Mandaten reden, liegt sie im Sterben. Verstehen Sie das? Im Sterben. Sie ist erst siebzehn Jahre alt und, wenn die Ärzte ihr nicht helfen können, ist sie tot. Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was mir das Mädchen bedeutet?“
    „Ja, Meyers. Das weiß ich.“
    Hawthorne blieb ganz ruhig. Jedes Wort war ein wohlplatzierter Dolchstoß:
    „Ich weiß so einiges. Ich mache es mir zur Aufgabe informiert zu sein und ich verfüge über Leute, die mich informieren – die mir aufschlussreiches Bildmaterial vorlegen. Es hat sich schon das eine oder andere Mal bezahlt gemacht. Daher weiß ich, dass Ihre jugendliche Schwester nicht nur Ihr Mündel, sondern auch Ihre minderjährige Geliebte ist, die Ihnen anscheinend mit ihrem süßen Mund, den Sie so gern küssen, auch den Verstand ausgesaugt hat. Ich wollte es vorerst nicht zur Sprache bringen, aber Ihre Impertinenz lässt mir keine Wahl.“
    Ich fragte mich, was für Fotos oder Filme er gesehen haben mochte, die ihn zu derartigen Schlüssen veranlasst hatten. Doch er ließ mir keine Zeit, diese Frage zu stellen.
    „Ihre Nachlässigkeit bei der Arbeit allein ist schon nicht zu entschuldigen. Aber Inzest, Meyers! Wissen Sie, was das heißt? Das ist eine Straftat. Sie sind vorbestraft! Gehen womöglich in Haft! Wissen Sie eigentlich was das für uns bedeutet – für diese Kanzlei – für meinen guten Namen? Wie das in der Boulevardpresse ausgewalzt wird? Für diese Aasgeier ist das doch ein gefundenes Fressen. Sie werden die Sache mit Jack ausgraben und wir werden für alle Zeit zum Gespött der Stadt – ich werde zum Gespött der Stadt, Meyers. Das kann ich nicht zulassen. Deswegen dauert ihre Suspendierung exakt bis zum Ende der Krankheit Ihrer Schwester an. Sollte Ihre Schwester sterben, können Sie wieder bei uns anfangen, sollte sie genesen, sind Sie draußen. Überlegen Sie, was Ihrem weiteren Leben zuträglicher ist. Und wenn Ihnen nur ein Fünkchen Ehre verblieben ist, wagen Sie nicht, mir auch nur mit einem weiteren Wort zu widersprechen.“
    Damit war eine rote Linie überschritten: Ich würde mir niemals wünschen, Scrooge zu bleiben, solange mein Geist der Weihnacht noch atmete.
    Giftige Galle brodelte in mir empor, sammelte sich schäumend

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