Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
sie, aber ich solle vor allem in die Zukunft schauen und offen sein, für die Möglichkeiten, die sie bot. Mit etwas Glück würde ich eine Frau kennenlernen, mich verlieben, ohne die Gefahren, die unser Verwandtschaftsverhältnis mit sich brachte, eine Familie gründen. Auf keinen Fall solle ich meinen, ich müsse aus Rücksicht auf sie allein bleiben. Wenn sie könnte, würde sie nach ihrem Tod immer bei mir sein und sie wolle miterleben, dass ich glücklich wäre, nicht unglücklich.
Das war das letzte Mal, dass ich mit Annabell sprach, vor diesem Tag im September, an dem sich ihr Schicksal erfüllen sollte. Noch während sie meine Hand hielt, schloss sie die Augen. Ich dachte, sie wäre bloß kurz eingenickt, doch es war ein tiefer Schlaf, in den sie fiel. Sie verlor das Bewusstsein und ließ uns, die wir hellwach miterleben mussten, was ihr bevorstand, die Zeit, an ihrem Krankenbett zu sitzen, allmählich Abschied zu nehmen und uns auszumalen, wie sie daliegen würde mit Anthony im Arm, kalt und still in ihrem unterirdischen Bett auf dem neuen Friedhof von South Port, Massachusetts. Und ich betete darum, sie möge nicht gehen, wie ich noch niemals zuvor um etwas gebetet hatte.
66. Kapitel
Es war ein strahlender Septembertag, soviel steht fest. Auch wenn Einiges in meiner Erinnerung verschwimmt, tritt Anderes dafür umso konturierter hervor. Der Himmel war tiefblau – wie im Winter. Nicht eine Wolke hinderte das gleißende Licht daran, die Erde erstrahlen zu lassen. Alle Farben leuchteten in intensiven Tönen. Was für ein herrlicher Tag, um zu sterben!
Ich saß mit dem Reverend an Annabells Bett. So wie wir es am Tag zuvor getan hatten und am Tag davor. Über eine Woche schon hatte Annabell die Augen nicht mehr geöffnet. Über eine Woche schon nutzte ich meine neu gewonnene freie Zeit dazu, solange es ging, an ihrem Bett zu sitzen, sie zu beobachten, einfach nur bei ihr zu sein. Die Mahlzeiten hielten mich nicht lang von Annabell fern. Ich brachte ohnehin kaum einen Bissen hinunter. Ich schlief so selten wie möglich. Aus Angst, den Moment des endgültigen Abschieds zu versäumen, hatte mich mit großer Überredungskunst auf der Intensivstation einquartiert. Ab und an fielen mir die Augen zu und ich schlief in dem hochlehnigen Sessel ein, ab und an schlief ich in dem Bett, das ich mir neben das von Annabell hatte stellen lassen.
Nun hielt ich Annabells Hand. Ein Monitor zeigte den langsamen Herzschlag und ließ den dazugehörigen Signalton erklingen. Ausschlag nach oben, Piep, Kurve nach unten…Ausschlag nach oben, Piep, Kurve nach unten … Sollte das alles gewesen sein? Die letzten Klänge eines kurzen Lebens? Ich konnte den Gedanken nicht ertragen. Aber sie da liegen zu sehen, an die Schläuche der verschiedenen Apparate angeschlossen, blass, regungslos – bis auf das mühsame Atmen, den verzweifelte Versuch Luft zu holen, obwohl ihre Lunge doch nun nur noch einen Bruchteil des notwendigen Sauerstoffs aufnehmen konnten. …Piep… Es war ein Trauerspiel. Wie konnte ich ihr wünschen, aufzuwachen? Um noch eine Weile so weiter zu leben? Dahin zu siechen? Konnte ich so selbstsüchtig sein?
„Wir werden Sie gehen lassen müssen, mein Sohn“, beantwortete McCandle diese Überlegung, als ob er denselben Gedanken gehabt hatte.
Ihm schien Annabells Zustand kaum minder nahe zu gehen als mir. Sein Gesicht war in den vergangenen Tagen immer fahler geworden. Unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Die Augen selbst hatten ihren sonst so zuversichtlichen Ausdruck verloren. Zwar gab er sich Mühe, mir Kraft zu spenden. Doch strafte seine Trauermiene seine ermutigenden Worte Lügen. Ich selbst hatte Tage lang nicht in den Spiegel gesehen.
„Das werden wir, Reverend“, entgegnete ich. „Es hat keinen Sinn mehr, zu hoffen, dass sie noch einmal aufwacht. Es hat alles keinen Sinn mehr.“
Ich war am Ende. Ich konnte nicht mehr wünschen, beten, hoffen. Ich konnte mich nur noch resigniert in das Unausweichliche fügen. Ich war geschlagen. Das Schicksal hatte einen Weg für Annabell bestimmt, von dem ich sie nicht abbringen konnte, von dem die besten Ärzte, die man für Geld kaufen konnte, sie nicht hatten abbringen können. Das Schicksal kann man nicht abwenden. War das die Lehrstunde, die ein unerbittlicher Lehrmeister mir ein für alle Mal zu teil werden lassen wollte? Falls ja, war seine Lektion so hart, dass ich mich wohl niemals mehr von ihr erholen würde.
“And the lamplight o'er
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