Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
unendlichen und vollkommen Schönheit, Güte und Herrlichkeit begreifen, die Sie eines Tages erwartet. Sie dürfen nicht glauben, der Herr wollte Sie oder Annabell oder sonst jemanden mit dem Tod strafen. Wo der Herr ist, da ist Leben.“
Ich nahm seine Lobgesänge zum Anlass, ihm die Frage zu stellen, die mich inzwischen immer wieder beschäftigte: „Glauben Sie eigentlich an Wunder, Reverend?“
Und er antwortete: „Das kommt darauf an, was Sie mit Wunder meinen, mein Sohn. Wenn Sie meinen, dass jeden Tag die Sonne aufgeht, dass Rosen blühen oder dass man im Winter seinen Atem sehen kann, dann kann ich Ihnen sagen, ich glaube nicht nur daran, ich erlebe sie jeden Tag. Wenn Sie aber fragen, ob der Herr in Prozesse der Natur eingreift, die nach scheinbar unabänderlichen Regeln funktionieren, und diese Regeln bricht, dann glaube ich fest an die Möglichkeit. Der Herr hat diese Prozesse selbst eingerichtet und bewirkt durch seine kontinuierliche Schöpfertätigkeit ihre Funktion. Wenn es seinem Willen beliebt, kann er sie punktuell oder insgesamt ändern. Ein Wunder wäre lediglich ein Ausweis seines freien Schöpferwillens. Ob und in welchen Fällen er es jedoch tut, vermag ich nicht zu sagen.“
„Meinen Sie, er wird Annabell helfen?“
„Er hält sie sicher in seiner Hand, was auch passiert. Ob er sie länger bei uns leben lässt? Wir können ihn nur darum bitten.“
Ich nahm mir vor, genau das weiterhin zu tun und den Begriff Theodizee zu googlen.
Wenn er doch nur recht hätte, mit dem, was er sagte. Wie sehr ich mir wünschte, dass er recht hätte. Aber mehr noch wünschte ich mir, dass Annabell wieder gesund würde.
Gespannt erwartete ich den kommenden Tag.
64. Kapitel
Am nächsten Tag standen die Untersuchungen bevor. Unruhig saß ich an meinem Schreibtisch im Büro und erledigte halbherzig die dringlichsten Aufgaben, immer wieder in Versuchung, Dr. Mercer anzurufen, der als mein Berichterstatter alles beobachten sollte. Wenn man gespannt auf etwas wartet, zieht sich die Zeit zähflüssig in die Länge. An diesem Tag schien sie gefroren zu sein, in ihrem Fluss erstarrt.
Es klopfte an der Tür und Margery streckte den Kopf herein:
„Er möchte Sie gern sehen. Jetzt gleich, falls es Ihnen möglich ist.“
Mit „Er“ war selbstredend Hawthorne gemeint.
Was er wohl von mir wollte? Hatte er mit den anderen Partnern über meine Aufnahme in ihren erlauchten Kreis gesprochen? Zu einer Besprechung über die näheren Bedingungen der Partnerschaft stand mir in diesem Augenblick überhaupt nicht der Sinn. Ich konnte mich nicht mit so profanen Dingen beschäftigen, während Annabell womöglich im Sterben lag. Aber da man gut daran tat, Hawthorne nicht warten zu lassen, seufzte ich lediglich und bat Margery, auszurichten, dass ich in fünf Minuten da wäre. Widerwillig streifte ich mein Jackett über, zog die Krawatte zu Recht und machte mich auf den Weg.
Hawthorne wollte mich offensichtlich auf die Folter spannen, denn er ließ mich eine Viertelstunde unproduktiver Zeit lang warten, bis mich seine Sekretärin zu ihm hineinschickte. Auch als ich eintrat, machte er sich weder den Umstand, sich aus seinem filigranen Sessel zu erheben, noch, die Augen von der vor ihm liegenden Akte abzuwenden. Also blieb ich einen Augenblick an der Tür stehen und hüstelte, um mich bemerkbar zu machen.
„Sind Sie krank Meyers?“
„Guten Morgen, Sir.“
„Setzen Sie sich.“
Das hörte sich nicht sehr vielversprechend an. Ich nahm Hawthorne gegenüber Platz. Dieser hob nun endlich den Kopf, nahm seine Lesebrille ab und bohrte seinen Blick in meine Eingeweide. Auf seine entsprechende Geste hin nahm ich Platz.
„Meyers, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Sie sind vorläufig von Ihrer Tätigkeit für Westbury Hawthorne & Clarke freigestellt.“
„Wie bitte?“ Ich musste mich verhört haben. Hatte er gesagt ,freigestellt‘ ?
„Wir haben eine Vereinbarung vorbereitet, der zufolge Sie um diese Freistellung ersuchen, um sich einer wissenschaftlichen Arbeit widmen zu können. Ihre Bezüge entfallen selbstverständlich. Unterzeichnen Sie bitte auf der Linie dort unten.“
Er schob mir ein kleinbedrucktes Papier herüber.
„Mit Verlaub, Sir, das ist doch ein Scherz?“
„Sehe ich aus, als würde ich scherzen?“
Er sah ganz und gar nicht so aus.
„Unterschreiben Sie bitte. Ich habe gleich einen Termin.“
„Ich … ich verlange zu wissen, was hier vor sich geht. Was soll
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