Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Maßstäben gut. Genauso ist es anders herum. Die Vorsehung zu deuten, ist im Regelfall für uns unmöglich. Und warum sollte Annabells Krankheit eine Strafe für Ihre Fehltritte sein. Warum sollte Gott eine Unschuldige mit Krankheit strafen?“
„Sie ist nicht so unschuldig, wie Sie glauben, Reverend.“
Ich ließ diese Aussage einwirken.
„Sie hat ihre Unschuld längst verloren. An mich, an ihren eigenen Bruder. Wir lieben uns – in jeder Hinsicht.“
Ich schilderte ihm, was ich von Annabell wollte, was Annabell von mir wollte, was nach Ablauf der Frist unaufhaltsam passieren würde. Machte es einen Unterschied, ob man etwas nicht tat, wenn man es von ganzem Herzen wollte?
Der Reverend ließ meinen Arm los, als läge seine Hand auf einem glühenden Eisen. Sein Gesicht wurde bleich.
Ich genoss seinen Schrecken. Es verschaffte mir Ablenkung von meinem eigenen Schrecken – und Genugtuung. Wenn ich schon den unsichtbaren Herrn nicht treffen konnte, so doch seinen Knecht.
„Sie meinen …Sie meinen, Ihre Schwester … unsere kleine Annabell … dieses Mädchen, dieses Kind … soll Ihre … Geliebte werden?“
Er fiel in sich zusammen und atmete schwer.
„Sie ist nicht meine Geliebte, Reverend. Sie ist meine wahre Liebe. Und Gott, dieser unbarmherzige, gnadenlose Gott rächt sich nun an uns beiden, indem er sie mir nimmt. Eigensüchtig und neidisch will er, dass wir ihn mehr lieben als einander, Reverend.“
Er sah alt und gebrochen aus. Von einem Moment zum anderen. Er saß da, und betrachtete Annabell gedankenverloren.
Nach einer Weile der Besinnung richtete er sich auf, sah mich an und sagte:
„Sie stellen mir die Theodizee Frage, mein Sohn, die Frage, wie sich ein guter, barmherziger und gerechter Gott, wie ihn Juden, Christen und Muslime denken, angesichts des Leidens in der Welt denken lässt. Auf diese Frage gibt es viele Versuche einer Antwort, darunter von den Verfassern des Buches Hiob diejenige, dass es dem Geschöpf nicht zukomme, den Schöpfer wegen der Beschaffenheit und des Schicksals seiner Schöpfung zu hinterfragen oder über ihn urteilen. Ich kann Ihnen, keine zweifelsfreie Antwort auf diese große Frage der Menschheit geben. Ich kann nur darauf vertrauen, dass nicht alles, was uns auf Erden als ein Übel erscheint, für den Betroffenen und für die gesamte Ordnung der Schöpfung auch von Übel ist. Dies gilt umso eher, wenn man den Betrachtungszeitraum über das irdische Leben hinaus erweitert.
Und wenn Sie mir sagen, dass Ihre Schwester Ihre wahre Liebe ist, glaube ich es und will Euch beide nicht verurteilen. Zwar gibt es gute Gründe, eine Verbindung zwischen Geschwistern abzulehnen, auch wenn es Halbgeschwister sind, wie in Eurem Fall …“
„Wem sagen Sie das, Reverend. Ich habe sie mir unzählige Male durch den Kopf gehen lassen. Davon können Sie ausgehen.“
„Und dennoch haben Sie und Annabell sich entschieden, …“, er hielt kurz inne.
„Was ich dabei war, zu sagen: ‚Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bin .‘ -wir alle sollten nicht vorschnell übereinander urteilen. Wir sehen nur Ausschnitte der Sachverhalte, die wir oft so übereilt verdammen. Der Herr sieht den gesamten Sachverhalt, von innen wie von außen und wie es dazu kam. Denn er hat ihn bewirkt.“
Dann fuhr er fort, mir wieder einmal von der Güte Gottes und der Verheißung des unsterblichen Lebens für alle Menschen zu erzählen. Er glaubte offenbar nicht an die Hölle. Im Gegenteil: Er ging davon aus, dass die Vielfalt aller Lebewesen das irdische Leben überdauern und die transzendente Herrlichkeit schauen würde, dass das Leid und der Mangel neben der Freude und Fülle Teil des Individualisierungsprozesses und als Nebenfolge der Kontrasthintergrund dieser Herrlichkeit seien – selig seien die Trauenden, denn sie würden getröstet werden. [8] Er schloss seinen Vortrag mit den Worten:
„Gott liebt Sie, Ethan, und er liebt Annabell. Wenn er Annabell zu sich ruft, erwartet er, dass wir seinen Entschluss akzeptieren, ohne die Gründe dafür zu erfahren. Er erwartet, dass Sie erkennen, dass nicht Annabell ihr Ziel im Leben ist. Sie ist eine Begleiterin auf dem gemeinsamen Weg – in diesem Leben und in dem Reich das Jenseits liegt. Wenn Sie Annabell hier wegen Ihrer Schönheit oder Güte oder einer anderen Eigenschaft lieben, die Sie an Ihr erfahren, so dürfen Sie diese Qualität als eine Ähnlichkeit zur
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