Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Stimme ‚denn, wenn es anders wäre, könntest Du nicht das Leben führen, das Dir bestimmt ist. Der Durst nach dem lebendigen Wasser wäre zu stark. Aber horch nur genau hin. Von Zeit zu Zeit wirst Du einen Hauch dessen spüren, was Du heute sehen durftest. Alles, was Du tun musst, ist, aufmerksam zu sein. Und sei gewiss: Einst wirst Du hierher zurückkehren. Doch dann wirst Du den Schleier durchschreiten und denen folgen, die vor Dir gingen und denen vorausgehen, die Dir nachfolgen. Denn so ist es bestimmt.’ Und bevor ich widersprechen konnte, war da dieser Raum hier. Ich sah das Neonlicht. Die Schläuche. Euch alle. Ich sah Dich, Ethan. Und ich bin glücklich. Ich bin so glücklich hier zu sein. Glücklicher, als ich es jemals war, weil ich es weiß: Eines Tages werden wir uns hinter dem Schleier treffen und gemeinsam aus der Quelle trinken …“
Selig strahlte sie mich an.
„Doch nun bin ich müde und ich glaube …“
Und bevor Annabell den Satz beenden konnte, schloss sie die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Ihr Atem ging ruhig. Ebenso ihr Herzschlag.
So schlief Annabell für einundzwanzig Stunden. Als sie erwachte, konnte sie sich an den vergangenen Tag, an die Tränen, die Aufregung, all das, was sie mir erzählt hatte, nicht erinnern. Und auch ich sprach von Ihrem Bericht zu niemandem ein Wort.
Dr. Mercer und das Bostoner Ärzteteam untersuchten Annabell in den folgenden Tagen und bemühten sich nach besten Kräften, herauszufinden, was vorgegangen war. Annabells Lunge, Nieren und anderen Organe wurden tatsächlich gesund. Die Zahl der Bakterien nahm ab, bis sie am Ende ganz verschwunden waren. Der Zellverfall fand nicht mehr statt. Die Blutwerte verbesserten sich von Tag zu Tag.
Dr. Summers erklärte Annabells plötzliche Wiederbelebung mit dem ersten Stromschlag des Defibrillators. Für den Sieg über die Bakterien machten die Ärzte die neuen Medikamente verantwortlich. Der Hersteller übersandte einen prall gefüllten Präsentkorb und riesigen Blumenstrauß zusammen mit seinen herzlichsten Glückwünschen. Die Regeneration der Organe war das Rätsel, das den Ärzten zu schaffen machte. Professor Masters blieb vollkommen unbeeindruckt und verwies mir gegenüber auf das Phänomen eines spontanen Zellwachstums, das bereits in einigen anderen Fällen festgestellt worden sei. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis man eine wissenschaftliche Erklärung für solche Krankheitsbilder finden würde. Dr. Mercer blieb sprachlos und sagte lediglich, wir sollten das Geschehene nicht hinterfragen, sondern einfach froh sein, dass es sich so entwickelt hatte.
Reverend McCandle betrachtete Annabell mit ehrfürchtigem Staunen. Er äußerte sich – untypisch für ihn – nicht zu den Ereignissen. Kein Wort von Wunderheilung oder dergleichen, das angetan wäre, mich über das Wirken seines Herrn ins rechte Bild zu setzen. Wann immer wir uns begegneten, warf er mir allerdings einen Blick zu, der sagen wollte: „Was sagst Du nun, mein Sohn?“
Doch das war gar nicht nötig. Ich selbst fiel nach Annabells Erwachen auf die Knie und dankte der Kraft, die diese Heilung bewirkt hatte. Ich war sicher, dass sie da war. Zwar hörte ich keine Stimme oder irgendwelche Botschaften wie Annabell, aber, während Annabell nach ihrer langen Schweigsamkeit wieder mit mir sprach und mir ihr Erlebnis berichtete, fühlte ich für einen Moment lang eine unbeschreibliche Gegenwart, einen tiefen Frieden und Zuversicht, die Gewissheit, dass alles gut und wohlgeordnet war, dass alles auf ein gutes Ziel zusteuerte. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich Derartiges erlebt. Es war, als ob Annabells Worte eine Tür zu einer anderen Wirklichkeit öffneten, einer Wirklichkeit, die ich bisher nicht hatte sehen können, obwohl ich stets von ihr umgeben war. Für mich war ohne Bedeutung, mit welchem Namen ich diese Realität ansprechen konnte – ob es der Gott der Juden, Christen oder Muslime, eine Schnittmenge der Drei, ein unpersönliches Nirwana oder eine ganz andere Charakterisierung des Höchsten und Letzten war. Was für mich zählte, war, dass sie mächtig, dass sie gut und dass sie real war. Denn für mich stand damals fest, dass ich ein Wunder erlebt hatte.
Je mehr indes die Zeit verstreicht, desto häufiger und intensiver stellt sich der Zweifel ein. Meine in langen Schulstunden nach dem Vorbild der größten Denker gestählte Vernunft protestiert. Sie fühlt sich oftmals von einer Wunderheilung und meiner eigenen Erinnerung
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