Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
lang. Joseph erzielte in allen Schulfächern gute Noten und es schien, als ob er sich dafür nie großartig anstrengen musste. Er war jedoch aufgrund seiner Figur und seiner Fehlsichtigkeit in keiner Sportart zu gebrauchen – Ballsportarten lagen ihm am wenigsten. Wenn Mannschaften gebildet wurden, wurde Joseph daher als Letzter gewählt, wenn eine unliebsame Aufgabe zu vergeben war, wurde er dagegen als Erster vorgeschlagen. Er erledigte solche Aufgaben, ohne zu klagen, war hilfsbereit, wenn es darum ging, Lösungen der Hausaufgaben zur Verfügung zu stellen oder unentgeltliche Nachhilfestunden zu geben. Das machte ihn jedoch bei den anderen Schülern nicht beliebter. Sie betrachteten seine Unterwürfigkeit und sein mangelndes Durchsetzungsvermögen als die natürliche Entsprechung seiner gesellschaftlichen Stellung. Wenn kein Lehrer zuhörte, nannten sie ihn mit Vorliebe „Darkie“ oder „Jim Crow“ oder sangen „Dandy Jim from Caroline“, dessen Refrain „My ole massa tole me so, I was de best lookin Nigger in de County O [2] “geeignet war, Joseph, dessen Hautfarbe tatsächlich schwarz war, in mehrfacher Hinsicht zu verspotten. Joseph sagte zu alledem nichts, sondern ertrug jede Beleidigung, ohne zu klagen.
Eine Begebenheit mit Joseph ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, und ich erwähne sie hier, weil sie gleichsam den Abschluss meiner Initiation markierte. Eine Sendung dicker Latein-Wörterbücher war eingetroffen und ein paar von uns, darunter Joseph, waren dazu abgestellt worden, sie von der Verwaltung in den Klassenraum zu tragen. Latein mag eine tote Sprache sein, aber das macht sie nicht leichter. Die Bücher waren dick und schwer und selbstverständlich war es Joseph, der einen hohen Stapel tragen musste, während wir anderen uns auf den Transport einiger weniger Bücher beschränkten. Selbst diese spürten wir deutlich in den Armen, während wir hinter Joseph hergingen und uns über sein zunehmend keuchendes Atmen, seine zitternden Arme und seinen torkelnden Gang amüsierten und „Dandy Jim“ pfiffen.
Doch damit nicht genug. Ein guter Spaß kann immer noch gesteigert werden, und kurz bevor wir an unserem Ziel ankamen, hatte einer der Jungen die passende Idee. Also überholten wir Joseph und Craig stellte ihm mit einer elegant-flüssigen Bewegung ein Bein, was er angesichts der Bücher, deren Stapel ihm bis über die Augen reichte, unter keinen Umständen hätte sehen können.
Der Plan ging auf. Joseph schlug in voller Länge hin und die Bücher verteilten sich unter und neben ihm. Er schrie gequält auf, weil sich beim Sturz einige der harten Kanten in seinen Körper bohrten.
„Pass auf, Jim“, rief Craig ihm zu, „dass Du mit Deinem Schweinespeck keine Fettflecken auf unsere Bücher machst. In der Hütte, aus der Du kommst, hat man Dir das vermutlich nicht beigebracht, aber wir mögen die Seiten rein und weiß.“
Und Joseph fing an, bitterlich zu weinen. Wenn er an sich schon kein schöner Anblick war, weinend war er erbärmlich. Mir ging der Schabernack wohl etwas zu weit, denn ich verspürte den Impuls, zurückzugehen und ihm zu helfen, die Bücher aufzusammeln. Craig jedoch hielt mich am Arm fest und ermahnte mich:
„Überleg Dir gut, auf wessen Seite Du stehst, Meyers! Du bist jetzt einer von uns und ich hoffe aufrichtig, Du möchtest das auch bleiben. Wer Du bist, hängt ganz wesentlich davon ab, mit welchen Leuten Du Dich umgibst. Wenn Du Dich natürlich in unseren Jimmy hier verliebt hast und gerne mit ihm schwule Spielchen unter der Dusche treiben willst, geh nur zu ihm und bleib ein Niemand, so wie er. Ansonsten komm mit uns und halte Dich an die Spielregeln. Wenn Jimmy sich mit seinem schwarzen Hintern in ein Wespennest setzt, muss er sich nicht wundern, dass er ordentlich gestochen wird [3] .“
Und natürlich hielt ich mich an die Regeln. Zu Craigs und meiner Verteidigung muss ich sagen, dass wir noch sehr jung waren, zu dieser Zeit. Rückschauend wurde klar, dass Craig unrecht gehabt hatte. Joseph war alles andere als ein Niemand geblieben. Er hatte sein Studium abgebrochen und ein Unternehmen für IT-Sicherheit gegründet, dessen Namen heute jeder kennt. Er hatte dieses Unternehmen an die Börse gebracht und dabei einen Wahnsinnsreibach gemacht. Craig, Joseph und ich vertrugen uns mittlerweile bestens. Wir spielten sogar ab und an Golf miteinander– das einzige Ballspiel, das Joseph beherrschte. Ich wusste nicht, ob er sich noch an die Schulzeit
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