Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
an Land gezogen – im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Redest Du von Jessica?“
Craig lachte. Jessica war Craigs neueste Eroberung – oder er die ihre. Sie machte sich ständig Gedanken über ihre Figur. In meinen Augen war sie magersüchtig.
„Nein, nicht Jessica - so fett nun auch wieder nicht. Viel besser. Mr. Magnon persönlich - Royce DeVere.“
„Uuw, die fette Qualle? Ist ja ekelig. Will gar nicht wissen, was Du dafür machen musstest.“
„Sehr witzig, Craig. Aber das bleibt unter uns, klar?“
„Klar, Mann. Berufsgeheimnis.“
„Warum ich anrufe: Heute Drinks im Toxic? Schließlich hab ich was zu feiern.“
„Toxic? Ja, wieso nicht. Waren ja schon lange nicht mehr da.“
„Aber lass Jessica zu Hause. Ich sag Steve und Zach Bescheid. Heute Abend ist die Jagdsaison eröffnet.“
„Geht in Ordnung. Ich hol Dich um halb elf ab.“
„OK. Bis dann.“
Ich rief die beiden anderen an. Steve hatte keine Zeit, aber Zach war mit von der Partie. Damit war der Abend in groben Zügen geplant.
Zu Hause angekommen, riss ich mir die Kleider vom Leib und warf mich aufs Bett. Ich war todmüde. Müde genug, dass ich nicht einmal daran dachte, dass ich den ganzen Tag über nichts gegessen hatte. Als ich um kurz vor acht aufwachte, scheuerten meine Magenwände protestierend gegeneinander und mein Mund schmeckte sauer. Ich ging ins Bad und genehmigte mir eine Magentablette. Anschließend bestellte ich mir beim Concierge ein Menü vom Asiaten, das als Hauptgericht Ente in Erdnusssoße beinhaltete, und stieg unter die Dusche.
Das Essen kam, als ich trocken, frisch gecremt und parfümiert und gerade dabei war, mir ein Outfit für den Abend zusammenzustellen. Neben dem Essen brachte mir der Page einen großen Umschlag mit, der mir heute förmlich zugestellt worden sei. Auf dem Umschlag stand „EILSACHE“ und irgendein offiziell aussehendes Siegel. Ich nahm dem Pagen die Tüte mit den köstlich dampfenden Pappschachteln und das Kuvert ab, warf Letzteres ungeöffnet auf meinen Schreibtisch und machte mich gierig über drei Frühlingsrollen her.
Die Limousine kam um 22.45 Uhr, um mich abzuholen. Ein schwarzer, gestreckter Lincoln mit abgedunkelten Scheiben und einem Fahrer namens Ben. Ich passte zu dem Wagen, denn ich hatte mich für einen dunkelgrauen Sommeranzug aus hauchdünnem italienischem Tuch, ein schwarzes Oberhemd und schwarze Loafer entschieden. Trotz des dünnen Stoffes trieb mir die schwülwarme Luft auf dem kurzen Weg von der Tür zum Wagen den Schweiß aus den Poren.
„Guten Abend, Sir. Ich hoffe, es geht Ihnen gut“, begrüßte mich Ben und öffnete mir die Tür.
„Danke, Ben -- hey, wir sind ja heute zu fünft.“
Craig wartete mit Zach, dessen Freundin Caitlin und Jessica im Fond.
„Hi, Ethan. Tut mir echt leid. Jessica wollte mich nicht allein mit Dir und Zach ins Toxic lassen – da sind zu viele hübsche Mädels. Und ich kann meiner süßen Maus, doch nichts abschlagen.“
Craig gab Jessica einen langen Kuss auf die aufgespritzten Lippen. Diese schmachtete ihn daraufhin verzückt an und bedachte ihn mit einem dahingehauchten „Du bist ja sooo süß, mein Liebling.“
Na, bestens. Ein Abend mit den beiden Mädchen. Angesichts der Turteltauben – oder lag es an meinem Abendessen? – stieg ein Gefühl von Übelkeit in mir auf. Meine Stimmung sank um mehrere Grade ab. Ohne meine Missbilligung zu zeigen, setzte ich mich zu meinen Freunden:
Craig Henderson Gordon war der älteste Sohn von Henderson Graham Gordon, dem Präsidenten einer Hotelkette, zu der unter anderem das Gordon’s Commonwealth Plaza auf der anderen Seite des Boston Common gehörte. Wie DeVere war auch Craig in das Familienunternehmen eingestiegen, aber anders als DeVere hatte er sein MBA-Studium an der Harvard Business School mit Erfolg abgeschlossen, zeigte sich lernfähig und engagiert und schien ein Händchen für das Geschäft zu haben. Die Hotels an der Pazifikküste und auf Hawaii standen bereits – zumindest pro forma – unter seiner Leitung.
Craig hatte Jessica vor vier Monaten bei einer Vernissage im Plaza kennengelernt. Sie war vierundzwanzig, studierte Kunst- und Literaturgeschichte und war ja so verliebt in ihren Craig. Craig, dessen Beziehungen für gewöhnlich ein Jahr nicht überdauerten, weil es ihn in der Vergangenheit spätestens dann zu neuen Ufern gezogen hatte, zeigte sich ebenfalls verliebt. Vielleicht glaubte er sogar, dass er es war. Nach meiner Einschätzung war es eher so etwas wie
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