Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

kam Annabell mit der Zeitung zu mir herüber und riss mich aus einem Tagtraum, der sich soeben zu entwickeln begonnen hatte.
    Ich sah mir das Hauptblatt an.
    „Freiwillige Feuerwehr zeichnet Truman Abrahams für fünfundsiebzigjährige Mitgliedschaft aus?“
    Das war zugegebenermaßen eine bedeutende Leistung und der in mit allerlei Flitter und Orden verzierten Uniform abgebildete Mr. Abrahams ein beeindruckender Feuerwehrmann. Ich fragte mich lediglich, wie der Rollator in den Feuerwehrwagen passte und ob es das war, was Annabell an der Meldung so faszinierte.
    „Die andere Seite …“, antwortete Annabell ungeduldig.
    ‚HAT NIEMAND ETWAS BEMERKT ?‘ lautete die Überschrift. Weiter stand da:
    „Plymouth/South Port: In einer Zeit, in der in den landesweiten Medien Teenager-Schwangerschaften zur traurigen Tagesordnung gehören und allerorten zur Wachsamkeit gegenüber Verbrechen gegen Minderjährige aufgerufen wird, erschreckt uns dieser Fall besonders, wenn wir Sittenlosigkeit und Verwahrlosung in der eigenen Nachbarschaft vermuten müssen. Aus dem Büro des Bezirksstaatsanwalts Henry Donahue jun. verlautete am vergangenen Wochenende eine Pressemitteilung zu einem Ermittlungsverfahren, das uns alle berühren muss – auch und gerade weil es einen Vorfall in unserer Gemeinde betrifft.
    Die Ermittlungen der Polizei richten sich gegen einen zweiunddreißigjährigen Bostoner Anwalt – gegenwärtig ohne feste Beschäftigung -, dem das örtliche Gericht die Vormundschaft über seine gerade einmal siebzehnjährige Schwester übertragen hat, deren Großmutter vor Kurzem verstorben ist. Wir alle haben dieses Mädchen, sein junges Mündel, aufwachsen sehen, wir kennen es gut und wir wünschen uns und ihm, dass sich die Vorwürfe gegen seinen Bruder nicht bewahrheiten. Dieser, ein Mann mit den Erfahrungen, die das Leben in der Großstadt nahezu zwangsläufig mit sich bringt, wird beschuldigt, das Vertrauen, das die öffentliche Ordnung in seine Ehrenhaftigkeit und seinen Anstand gesetzt hat, auf schändlichste Weise missbraucht zu haben, indem er seine minderjährige Schwester dazu verführte, eine sexuelle Beziehung mit ihm einzugehen.
    Wir alle können uns bildhaft vorstellen, dass ein heranwachsendes Mädchen, das gezwungen ist, mit solch einem Mann unter einem Dach zu leben, irgendwann unter dem Ansturm wiederholter Annäherungen kapitulieren muss, wenn es ihnen bei allen möglichen Gelegenheiten ausgesetzt ist. Ob und in welchem Umfang eventuelle Annäherungen unter der Androhung oder Ausübung körperliche Gewalt stattgefunden haben, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht als feststehend betrachtet werden.
    Ein solch abscheuliches inzestuöses Verhältnis wäre allerdings geeignet, in jedem zartfühlenden Teenager ein Gefühl tiefer Schuld aufkommen zu lassen, was eine Erklärung dafür sein könnte, warum das arme Kind vor Kurzem von einer schwerwiegenden Krankheit betroffen war, von der berichtet wird, sie habe lebensbedrohliche Ausmaße angenommen. Sollte, müssen wir uns fragen, durch den mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt etwas vertuscht werden?
    Selbstmordgefahr oder ein Schwangerschaftsabbruch sind nur zwei der entsetzlichen Umstände, die eine längere stationäre Behandlung mit psychotherapeutischer Betreuung erfordern können. Der behandelnde Arzt am Plymouth General stand unserer Zeitung für ein Interview leider nicht zur Verfügung.
    Lieutenant Osborne von der örtlichen Polizei fasste den Sachstand am Samstagnachmittag folgendermaßen zusammen: ‚Wir haben Ermittlungen gegen den Beschuldigten aufgenommen. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, wäre das ein wirklich starkes Stück. Die Polizei von South Port ist entschlossen, diesen Fall aufzuklären.’
    Das Büro des Bezirksstaatsanwalts bestätigte den Polizeioffizier und führte weiter aus: ‚Die Bevölkerung von South Port kann davon ausgehen, dass die Justiz diesen Fall sehr ernst nimmt. Die immer früher einsetzende sexuelle Aktivität von Minderjährigen ist ein schweres gesellschaftliches Problem, das Bezirksstaatsanwalt Donahue, selbst Vater dreier Kinder im Teenageralter, sehr am Herzen liegt, weil es seine Vorstellungen von Werten, Moral und Sittlichkeit im Kern betrifft. Erwachsene, so der Staatsanwalt, die ihrer Verantwortung für die heranwachsende Generation nicht gerecht werden, sondern im Gegenteil die Orientierungslosigkeit der jungen Menschen und deren mangelnde Fähigkeit zu Einsicht und Selbstbestimmung in verwerflichster,