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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Kämpfe immer.“
    „Es sind auch Deine Heimat und Deine Freunde.“
    „Ja, das sind sie mittlerweile wohl wirklich. Und irgendwann finden die Tratschweiber hier auch wieder etwas Neues, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Wir müssen nur vorsichtig sein, dass uns keiner zusammen sieht – als Mann und Frau.“
    Also war es beschlossene Sache. Wir würden in South Port bleiben würden.
    „Wann sind eigentlich die 40 Tage um?“, fragte Annabell verführerisch und sah mich auffordernd an.
    Bevor ich antworten konnte, klingelte es an der Tür.

80.      Kapitel

 
 
    „Erwartest Du Gäste?“, fragte ich Annabell, die den Kopf schüttelte, und ging zur Tür. Ich öffnete und vor mir stand jemand, den ich bisher nur von Ferne gesehen hatte. Aus der Nähe betrachtet, wirkte das alte Gesicht noch älter, die Figur noch mehr zusammengeschrumpft, der Rücken noch krummer.
    „Guten Tag, Mrs. Fullton. Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ich bin Ethan Meyers“, stellte ich mich vor.
    „Das weiß ich doch, junger Mann. Und sie sehen ihrem Vater sehr ähnlich. Aus der Nähe kann man es besser sehen.“
    Sie wechselte ihren Gehstock von der Rechten in die Linke und hielt mir eine kleine, schrumpelige Hand zur Begrüßung hin, die ich vorsichtig schüttelte. In ihren Augen stand ein fröhliches Lächeln.
    „Können wir etwas für Sie tun, Mrs. Fullton? Kommen Sie doch bitte herein.“
    „Ich bin gekommen, um Annabell zu sehen.“
    „Ich bin hier, Mrs. Fullton“, erwiderte diese und begrüßte die ältliche Nachbarin.
    Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer und boten Mrs. Fullton einen Tee an, doch diese lehnte dankend ab:
    „Mein Besuch dauert nur kurz. Ich möchte Euch junge Leute nicht stören. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Annabell etwas zu bringen.“
    Und sie zog ein kleines Päckchen aus der Tasche ihrer dicken Strickjacke und gab es Annabell.
    „Herzlichen Dank, Mrs. Fullton, was ist das?“, fragte diese.
    „Das mein Kind, ist von Deiner Mutter. Mach es doch bitte auf.“
    „Von meiner Mutter?“, fragte Annabell aufgeregt, holte eine Schere aus der Küche und schnitt neugierig die dünnen Bänder auseinander, mit denen das Päckchen zugeschnürt war.
    „Es ist noch genauso verpackt, wie Deine Großmutter es mir gegeben hat.“
    „Was ist es?“, fragte ich, ebenfalls gespannt, als Annabell das Packpapier auseinander faltete.
    Eine ledergebundene Kladde kam zum Vorschein. Annabell schlug sie auf.
    „Ein Tagebuch?“, fragte sie Mrs. Fullton, „meine Mutter hat Tagebuch geführt?“
    „Ich selbst habe es nicht gelesen, mein Liebes. Deine Großmutter hat es mir gegeben, bevor sie von uns gegangen ist. Sie ahnte wohl, dass es bald so weit sein würde. Ich sollte es verwahren und es Dir an Deinem achtzehnten Geburtstag geben - Du siehst, sie war optimistisch, was meine Lebenserwartung angeht.“
    Das musste Annabells Großmutter in der Tat gewesen sein, denn Mrs. Fullton war um die neunzig Jahre alt.
    „Deine Großmutter, Annabell, hat mir erzählt, dass Deine Mutter ihre persönliche Anmerkungen und Gedanken zu allen möglichen Ereignissen und Dingen in dieses Buch geschrieben hat. Es sollte Dir und eventuellen Generationen, die nach Dir kommen und die Deine Mutter womöglich niemals kennenlernen würden, ein Nachlass sein und ihnen Deine Mutter nahe bringen. Sie wusste, dass das geschriebene Wort himmelschreiende Torheiten und erhabene Wahrheiten übermitteln kann. Es kommt mitunter darauf an, wer es liest und in welcher Situation er es liest, ob sich die Wahrheiten entdecken. Und jetzt habe ich gehört, dass Ihr beide von hier fortgehen wollt und da war es mir wichtig, dass Du es bekommst. Wer weiß, wohin es Euch verschlägt und ob ich tatsächlich noch lebe, wenn Du achtzehn wirst. Eugenie möge mir verzeihen.“
    „Das wird sie sicherlich“, sagte ich, „es spricht zwar einiges dafür, dass wir in South Port bleiben, aber ich denke, das Buch ist bei Annabell in guten Händen.“
    „Oh, Ihr wollt gar nicht gehen? Dann muss der Reverend sich geirrt haben. Wir haben erst kürzlich miteinander telefoniert.“
    „Reverend McCandle konnte auch noch nicht wissen, dass wir bleiben, Mrs. Fullton. Wir haben es gerade erst beschlossen“, sagte Annabell.
    „Na, wenn das so ist, dürfte ich es Dir ja eigentlich noch nicht geben.“
    „Ja, das stimmt“, antwortete Annabell enttäuscht und reichte ihr das Buch hinüber, um es ihr zurückzugeben.
    Mrs. Fullton zögerte:

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