Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
„Da Du es jetzt schon einmal in Händen hältst, kann ich es Dir nun eigentlich auch nicht wieder wegnehmen, oder?“
„Mrs. Fullton, Sie sollten das Buch doch im Geheimen verwahren, nicht wahr? Und das geht doch nun ohnehin nicht mehr“, bot ich an. „Ihr Auftrag hat sich also im Grunde erledigt. Sie können es Annabell mit gutem Gewissen überlassen.“
Die alte Dame lächelte verschmitzt und freute sich über diese Ausflucht.
„Da haben Sie auch wieder Recht, Ethan. Das Beste wird sein, ich lasse es hier und wir reden nicht mehr darüber“, sagte sie verschwörerisch.
Annabell strahlte. Die Freude über diesen unverhofften Gruß ihrer Mutter war ihr ins Gesicht geschrieben. Mrs. Fullton verabschiedete sich gleich darauf von uns und Annabell schlug vor, dass wir uns auf die Bank auf dem Plateau setzten, wo sie in dem Tagebuch lesen wollte.
81. Kapitel
Also gingen wir unseren Weg über den Rasen, die Böschung hinauf, den kleinen Pfad durch die Büsche und setzten uns auf unsere Bank auf dem Plateau. Annabell konnte es kaum abwarten, das Tagebuch ihrer Mutter aufzuschlagen. Ich legte meinen Arm um sie, sie kuschelte sich an mich und begann, darin zu schmökern.
Während Annabell Seite um Seite mal kursorisch, mal Wort für Wort studierte, genoss ich die klare Luft, den Geruch von Salz und Meer und Annabells Haar, das weite Panorama der See. Schon bald würde dieser erste Sommer mit Annabell zu Ende gehen und ich wollte jeden warmen Sonnenstrahl auskosten. Also schloss ich die Augen, lehnte meinen Kopf an den von Annabell und hielt das Gesicht den warmen Liebkosungen der spätsommerlichen Sonne hin.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als Annabell mich aufgeregt anstieß und überschwänglich küsste, an mir rüttelte und mich umarmte, stand die Sonne ein ganzes Stück tiefer am Himmel und ich wusste im ersten Augenblick nicht, wo ich mich befand.
„Oh, Ethan, Ethan, es ist nicht zu glauben. Oh, ich liebe Dich und ich freue mich so und …“, und sie erstickte mich nahezu mit Küssen.
„Gütiger Himmel, was ist denn los? Was ist passiert?“ fragte ich, als ich endlich die Gelegenheit dazu hatte.
„Ethan“, sie strahlte mich an wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd, „weißt Du, was wir sind, oder besser, nicht sind?“
„Zu spät für den Nachmittagstee? Jetzt mach es doch nicht so spannend.“
„Wir – sind – keine – Geschwister. Keine Geschwister! Wir sind nicht einmal verwandt.“
„Was soll das heißen, wir sind keine Geschwister? Wie kommst Du darauf? Wir sind Halbgeschwister. Dein Vater ist auch mein Vater.“
„Eben nicht. Wenn es stimmt, was hier steht, war meine Mutter schon guter Hoffnung, als Dein Vater sie kennengelernt hat.“
„Aber …“, ich wollte etwas einwenden, denn diese Nachricht wäre zu schön gewesen, als dass sie wahr sein konnte, aber ich war sprachlos.
„Hier steht es. In der Handschrift meiner Mutter.“
Ich sah mir die schnörkellose, ein wenig kindliche Schrift an und las den Absatz, den Annabell mir zeigte.
„Ja, wenn das stimmt, wären wir keine Geschwister. Dein Vater hätte Deine Mutter verlassen, als sie ihm von ihren Umständen erzählt hat und mein Vater hätte Dich sozusagen adoptiert, indem er Deine Mutter vor Deiner Geburt geheiratet hat.“
„Weil er meine Mutter so sehr liebte, dass er ein fremdes Kind als Eigenes großziehen wollte.“
„Weil er auch Dich liebte. Ich bin mir sicher, dass er das getan hat“, und ich dachte an den Traum vor ein paar Wochen zurück, in dem mein verstorbener Vater seinen kuriosen Auftritt gehabt hatte.
„Aber warum sollte meine Mutter hier die Unwahrheit schreiben?“, fragte Annabell. „Meine Großmutter hätte nicht gewollt, dass ich das Buch lese, wenn sie es nicht auch für wahr gehalten hätte. Sie mochte Deinen Vater sehr und sie hätte meine Erinnerung an ihn in keiner Weise trüben wollen.“
„Du hast recht . Dieser Eintrag macht überhaupt keinen Sinn, wenn er nicht wahr ist.“
„Wenn wir keine Geschwister sind, weißt Du, was das heißt?“
„Wenn wir keine Geschwister sind, gibt es etwas, das wir tun könnten.“
Ohne ein weiteres Wort hob ich Annabell auf meine Arme und trug sie mit ohrenbetäubend laut klopfendem Herzen abermals die Böschung hinunter, über den Rasen und über die Schwelle des Hauses. In unserem Schlafzimmer ließ ich sie sanft auf dem großen Bett nieder.
Mit zitternden Händen öffnete ich behutsam die Knöpfe ihrer Bluse und
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