Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
hatte das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Ich hielt den Atem an und betrachtete sie. Ein wenig schüchtern lächelte sie zu mir hoch.
„Hallo, Annabell. Ich freue mich sehr, Dich endlich kennenzulernen.“
Und auch ich meinte dieses Mal jedes Wort, das ich sagte, ernst. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Wendung umgehen sollte, aber ich konnte meine Freude, dieses Mädchen kennenzulernen, nicht leugnen, selbst wenn es meine Schwester war.
„Hallo, Ethan.“
Für einen Augenblick wirkte sie unentschlossen. Dann breitete sie die Arme aus, um mich zu begrüßen. Wir umarmten einander - zunächst zaghaft, dann entschlossener. Ein elektrischer Schauer lief über meinen Körper, als wir uns berührten. Ich spürte Ihre schmale, zarte Statur an meiner Brust. Ihre Wärme. Ihr seidiges Haar streichelte meine Wange. Ich sog ihren Duft ein. Es war wundervoll. Es war berauschend. Ich musste sie haben. Als es vorbei war, spürte ich schmerzlich den Verlust.
Die Umarmung dauerte in der Realität nur kurz, wie das bei einer Begrüßung nun einmal üblich ist, aber ich genoss diesen kurzen Moment in vollen Zügen und dieser Genuss streckte den Augenblick in meiner Wahrnehmung weit über das übliche Maß hinaus.
„Wunderbar.“ McCandle war zufrieden. „Bruder und Schwester. Nach so vielen Jahren vereint. Ihr habt Euch sicherlich eine Menge zu erzählen. Ich wollte eigentlich auch nur kurz nach Dir sehen, Annabell. Aber jetzt, da Dein Bruder endlich da ist, werde ich Euch zwei wohl besser allein lassen.“
„Aber nein, Reverend, bleiben Sie doch gern noch eine Weile. Ich möchte Sie hier wirklich nicht vertreiben“, sagte ich. Dabei ging es mir weniger um ihn. Offen gestanden machte mich der Gedanke, so plötzlich mit Annabell allein zu sein, unruhig. Darauf war ich nicht vorbereitet. Alles kam so überraschend. Was würde ich mit ihr anstellen, ohne mich zum Volldeppen zu machen? Ich durfte nichts überstürzen. Dass meine Nymphe meine Schwester war, machte sie zum Tabu, zum Paradies hinter einer Grenze, die nicht überschritten werden durfte, zu meiner ultimativen Herausforderung. Doch ich konnte diese Herausforderung unmöglich annehmen. Was für eine Zwickmühle. Es ging alles zu schnell.
Vielleicht ging es Annabell in gewisser Weise ähnlich, vielleicht war sie aber auch nur freundlich, denn sie sagte:
„Ethan hat recht . Trinken Sie doch erst einmal Ihren Tee und bleiben Sie zum Abendessen. Ich habe eingekauft und die Zutaten reichen ohne Schwierigkeiten für Drei.“
„Oh nein, vielen Dank mein Kind. Wirklich nicht. Ich werde noch bei Charlton vorbei schauen und ihm berichten, dass Ethan eingetroffen ist und wir uns hier nett unterhalten haben. Das wird ihn sicher interessieren. Ich wünsche Euch einen schönen Abend. Solltet Ihr mich wider Erwarten brauchen, lasst es mich wissen. Annabell weiß ja, wie Ihr mich erreichen könnt.“
Er leerte seine Tasse in einem Zug und erhob sich.
„Danke für den Tee, Ethan. Es war schön, Sie kennenzulernen.“
So blieb uns nichts anderes übrig, als auch ihm einen schönen Abend zu wünschen.
Wir blieben allein zurück.
19. Kapitel
Wir blieben allein zurück und für einen Moment herrschte eine ohrenbetäubende Stille, die geradezu körperlich greifbar war. Es war unangenehm. Keiner von uns beiden schien zu wissen, was er sagen sollte. Und je länger die Stille dauerte, desto peinlicher wurde sie. Ich konnte die Augen nicht von Annabell abwenden, die schüchtern auf den Boden sah. Sie war wunderschön.
Und wir beide waren ganz allein.
Wie es mich verlockte, zu ihr hinüber zu gehen. Ganz dicht an sie heranzutreten. Die Hände auf ihre zarten Hüften zu legen. Ihren Duft, den Duft Ihres Haars einzusaugen. Ihr Gesicht, ihre Wangen, ihr Kinn zu betasten und ihren Kopf sacht zu mir hoch zu wenden. Mit dem Daumen über ihre Lippen zu streichen. Mich ihnen zu nähern und dann …
Annabell war die Erste, die die Sprache wieder fand.
„Dann bleiben wohl nur noch wir beide übrig …“
Sie sah mich fragend an und holte mich aus dem Land der Möglichkeit in die Aktualität zurück. Doch diese war zum Dahinschmelzen.
„… zum Abendessen, meine ich.“
Ja, wollte ich sagen, nur wir beide. Aber lass uns die Zeit doch nicht mit etwas so Profanem verschwenden wie Abendessen.
„Ja, das stimmt …“ räumte ich stattdessen ein. Ich konnte mich gar nicht an ihr sattsehen. „Aber das ist doch auch schön. Der Reverend ist ein netter Kerl, aber
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