Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
würde sie hören. Ich war kein Triebtäter und hatte noch nie einer Frau Gewalt angetan, aber in dem Moment juckte es mir in den Fingern - unter anderem.
Doch schon war Annabell glücklicherweise fertig und drehte sich um. Sie sah mich mit ihren großen arglosen Augen an und ich verachtete mich für diese Fantasie.
„Komm, ich zeig Dir noch das Badezimmer.“
Ich folgte ihr. Das Badezimmer war ein kleiner Raum mit einem alten Waschbecken, einer Badewanne mit Duschvorhang und einem alten WC. Kein Vergleich mit meinem Standard im Highstone. Doch schon konnte ich mir die Duschszene noch viel realistischer vorstellen …
„Wo schläfst Du eigentlich?“, fragte ich sie.
„Gleich neben Deinem Zimmer. Ich zeig’s Dir.“
Wir würden Tür an Tür, Wand an Wand schlafen. Wie sollte ich das aushalten?
Das Erste, was mir an ihrem Zimmer auffiel, war, dass es recht aufgeräumt wirkte und sich stilistisch gut in das Haus einfügte, gleichzeitig aber unverkennbar war, dass ein junges Mädchen hier wohnte.
Die Wände waren mit einer hellen Tapete mit rosa Blümchenmuster tapeziert. An der linken Wand stand ein etwa einmeterundzwanzig breites Bett mit einem Messinggestell, rechts und links daneben hohe weiße Holzregale, die prall gefüllt waren mit Büchern, CDs und allerlei Krimskrams. In der Ecke rechts neben dem Bett an der Fensterseite stand ein großer Sessel mit einer Leselampe und weichen Kissen, vor dem rechten Fenster ein schmaler Schreibtisch mit geschwungenen Beinen, auf dem noch mehr Bücher gestapelt waren. Gegenüber dem Bett stand ein Sofa, daneben ein Tischchen mit einer Musikanlage. Auf dem Sofa saßen Teddybären, Puppen und andere Plüschtiere. Ein einziger Teddybär, dessen weißes Plüschfell deutliche Spuren von Abnutzung aufwies, saß auf dem Bett. An den Wänden hingen keine Poster von Popstars oder Hollywoodgrößen, sondern gerahmte Fotos – von einer Wiese mit Sommerblumen, vom Strand im Winter, von bunt gestrichenen Häusern und Segelbooten im Hafen, von Annabell und einer älteren Frau, die ihre Großmutter gewesen sein musste, von Freundinnen und … Ja: Das war mein Vater mit einer jungen Frau. Die junge Frau hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Das also war Annabells Mutter. Es war merkwürdig, sie mit meinem Vater zu sehen, aber sie sah Annabell ähnlich. Zum ersten Mal, seit ich von ihr wusste, konnte ich ihr nicht böse sein. Ein fremdartiges Gefühl. Schnell wandte ich mich wieder ab.
Annabell sah mich nachdenklich an, sagte aber nichts über ihre Eltern.
„Und, wie gefällt es Dir?“
„Es gefällt mir ausgesprochen gut. Es ist hübsch eingerichtet … sehr gemütlich … und sehr ordentlich.“
Und das war es tatsächlich.
„Na ja, Großmutter hat immer gesagt, dass eine chaotische Umgebung auf den Menschen abfärbt, den sie umgibt, und dass es sich in geregelten Verhältnissen freier lebt.“
War das nicht die Art von Spruch, die man über Torbögen von Konzentrationslagern anzubringen pflegte? Aber wenn ich ehrlich war, konnte auch ich Unordnung weder in meiner Wohnung noch im Büro ertragen. Das Chaos hatte irgendwie etwas Bedrohliches, Widernatürliches an sich. Also antwortete ich:
„Das ist zwar paradox, aber ich glaube, Deine Großmutter hatte recht .“
Annabell war zufrieden mit dieser Antwort und bedeutete mir, ihr zurück nach unten zu folgen.
„Möchtest Du jetzt Deine Sachen raufbringen?“
„Was für Sachen? Ich habe nur das, was ich am Leib trage. Heute Morgen wusste ich noch nicht, dass ich in South Port bleiben würde.“
„Oh. Na dann müssen wir mal auf die Suche nach den Sachen von Dad gehen. Wir haben noch einiges aufgehoben.“
Großartig. Ich konnte es kaum erwarten, die Sachen meines Vaters zu tragen.
„Ja, mal sehn. Vielleicht fahre ich morgen in die Stadt und kaufe mir etwas für das Wochenende. Oder ich hole mir was aus Boston.“
Sie sah mich mit einem Hauch von Missbilligung an, sagte aber nur:
„Möchtest Du wissen, was Du tun könntest, während ich das Essen zubereite?“
Deine Unterwäsche durchwühlen? Hinter Dir stehen und Deinen Hals küssen? „Ach ja. Die geheimnisvolle Aufgabe. Was ist es denn?“
„Komm, ich zeig’s Dir.“
Und wieder ließ ich mich von ihr führen.
21. Kapitel
Die Sonne stand tiefer am Himmel und brannte weniger als noch am Nachmittag. Es war ein angenehmer Sommerabend. Ich stand, die Ärmel hochgekrempelt, auf dem Rasen in der Nähe der Terrasse, einen Wasserschlauch in
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