Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
hinreißend. Wie gern ich sie in diesem Augenblick geküsst hätte.
„Es ist alles in Ordnung. Ich hab ihn bis in den Elektroladen da hinten verfolgt. Aber dann war er weg.“
„Das war unvernünftig. Was, wenn er Dich dieses Mal verletzt hätte?“
Die Sorge um mich stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben.
„Versprich mir, dass Du beim nächsten Mal die Polizei rufst.“
„Der Glatzkopf sollte sich lieber in acht nehmen. Das nächste Mal kriege ich ihn, warte es ab. Und dann prügle ich ihn windelweich. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er sich hier nie wieder blicken lassen.“
Aber was Annabell gesagt hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Es hätte in dem Lagerraum auch ganz anders ausgehen können. Doch der Glatzkopf war feige. Er musste durch die Tür entwischt sein und sie hinter sich zugezogen haben.
Den Polizisten, die Annabell aus dem Auto heraus verständigt hatte, schilderte ich den Vorfall. Man versicherte, dass man das Lager nach Spuren untersuchen und nach den beiden Tätern Ausschau halten würde, viel könne man aber im Moment nicht tun. Das übliche Gerede. Genau das, was ich erwartet hatte. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich den Glatzkopf wieder sehen würde.
32. Kapitel
Zu Hause angekommen, rief ich Sandy an. Sie gab mir ihre Adresse und wir verabredeten, dass ich sie um halb acht abholen würde.
Ich stand im Garten am Fuße des Trompetenbaums. Annabell saß unter dem Balkon und las in dem Buch von Poe, das sie sich gekauft hatte. Obwohl sie scheinbar in die Lektüre vertieft gewesen war, hatte ich das Gefühl, dass sie das Telefonat aufmerksam verfolgt hatte.
„Annabell?“
„Ja?“
Sie sah mit gespielter Überraschung auf.
„Ich bin heute Abend unterwegs und werde wohl auch auswärts essen.“
„Ach so. Kein Problem.“
Sie sah wieder in das Buch, sagte dann „Ich mach mir dann nur noch eine Kleinigkeit. Oder vielleicht kommt Jason ja rüber.“
Nach einem Moment fragte sie beiläufig: „Weißt Du schon, wann Du zurück bist? Also ob wir uns heute noch sehen …“
„Ich weiß noch nicht. Es könnte später werden.“
Wenn alles planmäßig verlief, würde es mitten in der Nacht sein, wenn ich zurückkam.
„Ach so. Na dann: viel … Vergnügen.“
Eine Nuance von Missbilligung klang darin mit. Es war klar, dass sie wusste, was es zu bedeuten hätte, wenn ich später käme.
Pünktlich um halb acht wartete ich im offenen Wagen an der Adresse, die Sandy mir genannt hatte. Die Straße gehörte zu einer der weniger bevorzugten Wohnlagen von South Port. Es war offensichtlich, dass Sandy sie wegen der vermutlich geringen Miete gewählt hatte. Das Haus hatte im vorderen Bereich eine überdachte Veranda, die früher rundherum mit Insektenschutzvorhängen bespannt gewesen war. Das Gewebe hing an einigen Stellen löcherig zwischen den Pfeilern, an anderen war es halb abgerissen. Die weiße Farbe der Holzverkleidung musste vor Jahrzehnten aufgetragen worden sein. Wo sie noch nicht abgeblättert war, zeigte sich ein gräulicher Schmutzfilm, an den übrigen Stellen andere Schattierungen. Auf dem schmalen Streifen Land vor dem Haus wucherte das Unkraut zwischen Überresten von verbranntem Rasen, Papiermüll, einer leeren Bierflasche und einer zerquetschten Coladose. Die anderen Häuser in dieser Straße sahen nicht besser aus. Ich fragte mich angesichts dieser – wie mochte man es ausdrücken? – ‚Wohnsituation’, ob ich mir das Rendezvous wirklich antun sollte. Außerdem konnte ich den Glatzkopf nicht vergessen. War es richtig, Annabell allein zu Haus zu lassen? Der Glatzkopf wusste nicht, wo wir wohnten. Zumindest glaubte ich das zu diesem Zeitpunkt. Daher nahm ich mir vor, das Beste aus den Möglichkeiten dieses Abends zu machen.
Nachdem ich fünf Minuten gewartet hatte, kam Sandy aus einem Seiteneingang im hinteren Teil des Hauses. Sie trug einen extrem kurzen, hellgrauen Jeansrock, ein enges, tief ausgeschnittenes Oberteil in Zitronengelb, durch das sich ihre Brüste und ein kleiner Bauch abzeichneten. Das blondierte Haar fiel ihr offen um die Schultern und die großen Gehänge, die sie als Ohrringe trug. Das Make-up schien noch eine Spur dicker aufgetragen als im Diner. Zufrieden konnte ich feststellen, dass meine Garderobe für den Abend, das verwaschene dunkelblaue Poloshirt und eine blaue Jeans, genau passte.
„Hi, Ethan. Das ist ja ein heißes Gerät!“ kommentierte sie voller Begeisterung meinen Wagen. „In so was
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