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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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neues Gebiet als Friedhof ausgewiesen hatte, wurde der alte Gottesacker ungeachtet dieser herausragenden historischen Bedeutung nicht mehr genutzt.
    Kaum waren die Scheinwerfer und die Innenbeleuchtung meines Wagens erloschen, fand ich mich in Dunkelheit gehüllt. Ich verharrte hinter dem Steuer, bis meine Augen sich an die Fetzen von Licht gewöhnt hatten, die hier und da durch drohende Wolkengebirge fielen.
    Ich hatte Annabell nichts von meinem heutigen Ausflug erzählt, sondern meine Abwesenheit mit einer späten Verabredung entschuldigt. Annabell war mehr als enttäuscht von dieser Ankündigung und hatte womöglich Sandy im Verdacht, aber sie war zu rücksichtsvoll oder zu stolz gewesen, mich zum Bleiben zu überreden. Auch der Polizei gegenüber hatte ich die Nachricht des Glatzkopfs nicht erwähnt. Ich hatte lediglich Officer Crawford informiert, dass ich abends auswärts sein würde und er hatte nicht gezögert, auch an diesem Abend einen Mann vor dem Haus zu postieren, der in meiner Abwesenheit ein Auge auf Annabell werfen sollte. Das konnte wohl nur bedeuten, dass Onkel Charltons Einfluss tatsächlich sehr weit reichte, oder, dass die Polizei von South Port nicht viel zu tun hatte.
    Während ich in dem von Fensterscheiben und Verdeck gebildeten sicheren Käfig des Wagens saß, fragte ich mich, ob es wirklich klug war, mich dem Glatzkopf zu stellen. Die Spurensicherung war morgens im Haus gewesen. Es wäre mir nicht schwergefallen, Officer Crawford oder einen der Beamten aus Plymouth unauffällig von der meiner Einladung in Kenntnis zu setzen. Und doch hatte ich es nicht getan. Ich hatte mir eingeredet, ich müsse die Angelegenheit ohne die Einmischung der Polizei klären.
    Ich war kein Narr. Ich wusste, der Glatzkopf war darauf aus, sich für seine Niederlagen zu revanchieren. Er hatte mich auf diesen menschenverlassenen Ort an der Grenze zum Nirgendwo bestellt und war demnach vorbereitet. Ich wusste, ich sollte ihn nicht unterschätzen. Seine perverse Theatralik ließ vermuten, dass die Revanche schmerzhaft ausfallen sollte. Auf der anderen Seite war ich mir sicher, dass ich ihn richtig einschätzte: Der Bursche war ein Kleinganove. Ein Rüpel, der kleinen Mädchen Angst machen wollte, der es genoss, wenn Schwächere vor ihm zitterten, der vermutlich im Gefüge der Gesellschaft so weit unten stand, dass seine Einschüchterungen die einzige Möglichkeit waren, sein geschundenes Ego aufzurichten. Ich hatte ihn bei unseren letzten Begegnungen in die Flucht geschlagen. Er hatte gegen einen Preppy verloren, der noch dazu unbewaffnet war, und sein ursprüngliches Opfer hatte seine Demütigung miterlebt. So etwas zerrt am Gemüt. Nun wartete er nur darauf, mich zusammenzuschlagen oder Schlimmeres. Ich ging fest davon aus, dass er nicht versuchen würde, mich zu töten. Eine Fehleinschätzung, wie sich noch herausstellen sollte.
    Ich stieg aus dem Wagen und spürte augenblicklich, wie die feuchtkalten Finger der Nacht über meinen Nacken strichen und sich einen Weg in meine Kleider bahnten. Die winzigen Härchen meiner Haut richteten sich auf, mein Herzschlag beschleunigte sich und Schweiß sammelte sich auf meinen Handflächen.
    In der Dunkelheit treiben allerlei Schatten ihr Unwesen, kommen die finsteren Jäger aus ihrem Unterschlupf, um sich mit scharfen Klauen auf ihre arglose Beute zu stürzen. Was am Tage als harmloses Gebüsch erscheint, ist in der Nacht ein Versteck für Tausende von unsichtbaren Augen, und diese Augen verfolgten mich, während ich mit betont festem Schritt auf die Holzbrücke zuging, die rechts und links von hüfthohem Schilfgras gesäumt war, das sich über den gesamten Wasserlauf verbreitet hatte. Die morschen Bretter erzitterten knarrend unter der Last meines Gewichts. Spätestens da wussten die Untiere, die in dem dichten Schilf links und rechts von mir auf der Lauer lagen, dass ich mich in ihr Reich vorgewagt hatte. Doch das Untier, mit dem ich fortwährend zu kämpfen hatte, mochte weit furchterregender sein.
    Jenseits der Brücke lag der Eingang zur Totenwelt, ein schmiedeeisernes Tor zwischen zwei brüchigen Steinpfeilern, auf deren Spitzen zwei steinerne Engel mit gespreizten Flügeln und erhobenem Schwert auf Eindringlinge warteten. In der Dunkelheit glichen sie dämonischen Chimären, die mich, über den Verfall ihrer Leiber klagend, aus toten Augenhöhlen anstarrten. Der raue Rost des Eisentores haftete an meinen Händen, als ich es aufstieß und die weiten Flügel quietschend

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