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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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nach innen schwangen.
    Vor mir lag eine Allee von uralten, knorrigen Bäumen, deren Äste den Nachthimmel verdeckten. Bis zu den Waden reichendes Unkraut machte sich zwischen den scharfkantigen Kieseln breit, die einst den Weg gebildet hatten. Ich schritt vorbei an bemoosten Grabsteinen und Kreuzen, an Überresten von Gräbern, die der ungehemmt wuchernde Efeu erstickte, an Obelisken, die sich warnend gen Himmel richteten. Hinter jedem Stein konnte der Geist eines Verstorbenen darauf warten, mich in seine kalte Welt zu zerren. Doch es waren nicht diese Schatten der Nacht, die ich zu fürchten hatte, es waren die Zähne der Cobra und die Tatzen des Bären.
    Nach einer Viertelmeile machte der Weg einen Knick und lief auf eine Lichtung in den Bäumen zu, in deren Mitte eine alte Kapelle stand. Das Dach war eingestürzt. An den Wänden rankte Wilder Wein. Ich verließ den Schutz der Bäume, als die Wolken aufrissen und der Mond, einem fahlen Schädel gleich, seinen gespenstischen Schimmer auf die Lichtung ergoss. Sie war menschenleer.
    Langsam schritt ich auf die Kapelle zu. Rings umher standen übermannshohe Büsche, die die freie Fläche einkesselten und ein ideales Versteck für einen Hinterhalt boten. Hier jedoch war ein Hinterhalt nicht erforderlich. Die Maus verließ ihr Loch aus freien Stücken. Doch wo war die Katze? Hatte der Glatzkopf sich ein Vergnügen daraus gemacht, mich allein ins Nirgendwo zu locken, ohne auf mich zu lauern? Wollte er sich nur in seiner Fantasie an meiner Angst laben und ließ sich jetzt gerade irgendwo mit Bier volllaufen?
    Etwa zehn Meter vor der Kapelle blieb ich stehen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich hoffte, meine Stimme würde nicht versagen, wenn ich meinem Gegner gegenübertrat, und mich so seinem Spott aussetzen.
    „Ich bin hier! Zeige Dich!“ rief ich – lauter, als ich gedacht hatte. Hinter mir raschelte es in den Zweigen. Ich schnellte herum. Ein Nachtvogel stieß einen grässlichen Schrei aus und flog auf dunklen Schwingen davon.
    Dann regte sich nichts.
    Ich wartete.
    Ich wartete eine Weile, die sich ewig in die Länge streckte.
    Schließlich öffnete sich Zentimeter für Zentimeter das schwere Portal der Kapelle. Eine Gestalt trat heraus. Das Mondlicht fiel auf die Fratze des Glatzkopfs, der langsam die Stufen zu mir herunter schritt.
    Was für ein theatralischer Auftritt, Du Freak, dachte ich. Du wirst aus allen Körperöffnungen bluten, wenn ich mit Dir fertig bin!
    „Na, sieh mal einer an. Brüderchen hat sich verlaufen.“
    Amüsiert von der Genialität seiner geistvollen Gesprächseröffnung lachte der Glatzkopf in sich hinein. Wieder war er ganz in Schwarz gekleidet. Dicke schwarze Lederweste, schwarze Hose. Auf seiner Brust die flammende Kobra.
    „Ein anständiger Junge geht nachts nicht auf den Friedhof“, sagte er. „Das tut man nicht. Nein, nein.“
    Fünf Meter von mir entfernt blieb er stehen. Er war erstaunlich selbstsicher. Bei unserer letzten Begegnung war er vor mir geflohen.
    Ich regte mich nicht.
    „Was ist los, Du kleiner Wichser, bist Du stumm?“ Sein Wutausbruch kam unvermittelt.
    Ich nahm Maß …
    „Hast wohl die Hosen voll!“ spie er mir entgegen.
    … und stürzte mich auf ihn.
    Wie bei unserer ersten Begegnung gingen wir beide zu Boden. Doch diesmal fiel ich so unglücklich, dass mein Widersacher mir unbeabsichtigt seine Knie mit der vollen Wucht meines Ansturms in den Magen rammte. Ich blieb gekrümmt liegen, mir wurde schwarz vor Augen und ich war für einen kurzen Moment benommen. Diesen nutzte der Glatzkopf, um sich unter mir wegzudrehen und mir in die Rippen zu treten. Brennender Schmerz fuhr durch meinen Körper.
    Der Glatzkopf war schon wieder auf den Beinen und holte zu einem Tritt gegen meinen Kopf aus. Ich rollte mich im letzten Augenblick zur Seite und sprang auf.
    Mein Widersacher und ich standen uns gegenüber und bewegten uns langsam im Kreis, abwartend, den nächsten Zug des Gegners abschätzend. Der Schmerz hatte neue Kräfte in mir geweckt und ich schrie meine Wut hinaus:
    „Ich mach Dich fertig, Du Freak! Du wirst meine Schwester nicht mehr belästigen. Ich reiß Dir die Eier ab und stopf sie Dir in Deinen verdammten Hals!“
    „Komm doch, komm doch, Memme! Wenn ich mit Dir fertig bin, hol ich mir Deine Schwester. Die ist doch schon ganz feucht, wenn sie an mich denkt.“
    Dieses Mal stürmten wir beide aufeinander los. Wir rangen miteinander, wir schlugen wie im Fieber aufeinander ein. Meine Faust traf ihn am

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