Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
wissen … Oh, Ethan …“
„Als Du die Speisekarte geholt hast, … mich hat fast der Schlag getroffen. Glaub mir, ich kenne eine Menge Mädchen … oder Frauen, aber Du … Und dann …“
Wir küssten uns wieder, dieses Mal fordernder, energischer.
„Dass Du mein Bruder warst, war ein Schock“, fuhr sie fort, „mir war klar, dass meine Schwärmerei damit ein Ende haben sollte. Aber sie hatte es nicht. Ich konnte die Augen nicht von Dir lassen …“
„Du meinst, Du hast mich zur Gartenarbeit verdonnert, weil Du meinen nackten Oberkörper sehen wolltest. Jetzt wird mir einiges klar.“ Ich lachte.
„Nein im Ernst“, erwiderte sie, „ich habe versucht, mir klar zu machen, dass aus uns nichts werden kann, dass ich viel zu jung für Dich bin, und …“
„Aus uns kann nichts werden und Du bist zu jung für mich.“
Ich überspielte die Ernsthaftigkeit dieser Aussage mit einem Kuss.
„Das heißt, vielleicht sollte ich sagen, Du bist nach meinen üblichen Maßstäben vielleicht zu jung für mich. Aber das Alter ist eigentlich nicht so entscheidend. Es gibt viele Mädchen, die älter als Du sind, die mich nicht ein Stück interessieren, und es gibt noch mehr Mädchen, die so alt wie Du sind, die es auch nicht tun.“
„Und was ist mit Sandy?“ Ihre Frage wirkte ernst.
„Sandy? Wer ist das? Sandy war niemals mehr als … eine Ablenkung, ein Mädchen, mit dem man ein Rendezvous hat und nicht mehr. Sie ist nett, aber sie … sie passt einfach nicht zu mir und ich passe nicht zu ihr. Ich weiß auch nicht, woran das liegt. Ob es ihre Lebensumstände sind oder ihre Erziehung. Außerdem ist sie nicht hübsch genug – nicht so hübsch wie Du.“
„Schmeichler.“
„Sie interessiert mich jedenfalls nicht.“
„Du gibst aber zu, Dich für mich zu interessieren?“
„Ich gebe gar nichts zu.“
Ich wollte sie wieder küssen, doch sie entzog sich mir spielerisch. Also fuhr ich fort: „Aber ich habe mich tatsächlich in Dich verliebt, damals im Diner und ich wollte Dich wieder sehen. Ich bin Dir nachgelaufen, habe Dich in der Stadt gesucht. Aber ich wollte Dich unter anderen Umständen finden. Nicht als meine kleine Schwester. Am Anfang fand ich Dich nur unvergleichlich hübsch, äußerlich anziehend, aber dann habe ich Dich mehr und mehr kennengelernt. Und zu der Verliebtheit ist eine echte Zuneigung gekommen. Eine tiefe Zuneigung. Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass es nicht sein darf. Aber es half alles nichts. Schwester oder nicht. Ich komme nicht los von Dir. Du ziehst mich an, wie nichts anderes.“
Annabell strahlte vor Glück.
„So geht es mir auch. Ich meine: Ausgerechnet mein Bruder! Es klingt ganz und gar nicht richtig. Genau genommen klingt es unanständig und widernatürlich. Aber was für mich zählt, ist: Es fühlt sich richtig an. Ich habe mich oft gefragt, warum. Vielleicht liegt es daran, dass wir nie als Familie zusammengelebt haben und ich Dich erst jetzt kennengelernt habe. Fast jeden Abend habe ich wach gelegen, und darüber gegrübelt. Aber dann sind diese Zweifel verschwunden. Wie von selbst habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie es wäre, wenn wir beide … Ich wusste auch nicht, mit wem ich darüber sprechen sollte. Mit Cathy konnte ich nicht darüber reden. Die ist ja selbst hinter Dir her. Auch mit dem Reverend nicht. Mit Onkel Charlton schon gar nicht. Also habe ich gebetet. Um eine Antwort, um ein Zeichen, oder darum, dass es vorbei geht. Aber es ging nicht vorbei. Vielleicht stimmt mit mir auch einfach irgendwas nicht …“
„Mit Dir stimmt was nicht? Ich bin der Erwachsene von uns beiden. Ich bin derjenige, der vernünftig sein müsste, der sich um Dich kümmern müsste, für Dein Wohlergehen verantwortlich ist. Als der Richter mich eingesetzt hat, hat er sicher nicht gemeint, ich solle mit Dir herumturteln.“
„Und doch tust Du genau das …“
„Vielleicht liegt es tatsächlich daran, dass wir nicht zusammen aufgewachsen sind. Eigentlich sollte eine natürliche Hemmung zwischen Geschwistern bestehen, sodass sie sich gar nicht erst anziehend finden.“
„Halbgeschwistern.“
„Ja, Halbgeschwistern. Vielleicht ist es das, was an uns nicht stimmt.“
„Also meinst Du doch, es stimmt etwas nicht mit uns?“
Ich sah sie lange an und dachte über die Antwort nach.
„Ja, vielleicht. Vielleicht sollten wir nichts überstürzen. Vielleicht sollten wir …“
Annabell wollte keine Einwände hören. Sie küsste mich. Diesmal noch energischer als
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