Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Invalidenhilfe der Veteranen zum Beispiel. Oder helfen Sie jemandem, der Ihre Fähigkeiten braucht.“
„In Ordnung, John“, fast war ich sprachlos. „Das ist sehr großzügig. Sie und Ihre Männer sind ein nobles Vorbild für alle Männer und Frauen in Uniform.“
Er nickte nur und wandte sich zum Gehen.
„Ach, und John!“
„Ja, Sir?“
„Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich Ethan nennen würden.“
„Gerne, Ethan. Wir sehen uns beim Training?“
„Wir sehen uns, John.“
Und damit verließ meine Streitmacht die Stadt. Erfüllt von einem Hochgefühl sah ich den Lieferwagen hinterher. Ich hatte mit dem Teufel gerungen und ihn ausgetrieben. Die Erfahrung dieses Abends hatte mir wieder ins Gedächtnis gerufen, worum es im Leben ging und was erforderlich war, um seinen Widrigkeiten zu trotzen und frei und selbst bestimmt zu leben – während meiner Woche mit Annabell war ich beinahe im Begriff gewesen, es zu vergessen: Es war Macht. Reine ungezähmte Macht. Was für die Nationen dieser Welt galt, galt ebenso für den einzelnen Menschen. Wer das Leben meistern wollte, musste Wege finden, das Leben zu beherrschen. Mein Weg dorthin hatte einen Namen: Westbury Hawthorne & Clarke.
40. Kapitel
Am Morgen schlug ich erschöpft von der Aufregung der vergangenen Tage die Augen auf. Das Licht eines strahlenden Sommertages strömte grell durch die Ritzen der Vorhänge. Ich stöhnte leise. Heute war der Tag des Abschieds. Missmutig stand ich auf und schob die Vorhänge beiseite. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich hinaus auf die ruhige See, die sich als spiegelnde Ebene bis zum Horizont erstreckte, wo sie mit dem wolkenlosen Blau des Himmels verschmolz.
Wer brauchte schon diesen Postkartenblick? Ab morgen würde ich wieder das Treiben im Boston Common beobachten. Dort herrschte wenigstens Leben. Und irgendwann würde mein Landsitz am Meer liegen. Also warum klagen?
Stattdessen lauschte ich der Stille im Haus. Annabell war entweder schon draußen oder sie schlief noch. Leise schlich ich den Flur entlang und schob behutsam die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf. Über dem Bett fehlten die Bilder, die der Glatzkopf zertrümmert hatte. Aber immerhin hatten wir seine Botschaft notdürftig überstrichen. Und darunter …, ja, darunter lag das hübscheste Mädchen der Welt. Mein kleiner Engel. In ihrem Arm ruhte Anthony, fest an die sanfte Wölbung ihrer Brust gedrückt, die sich mit jedem gleichmäßigen Atemzug unmerklich hob und wieder senkte. Ihr zartes Gesicht war vollkommen entspannt, Ihre Rosenlippen leicht geöffnet, ganz so als warteten sie nur darauf, wachgeküsst zu werden. Es verursachte beinahe körperlichen Schmerz, dieser Einladung nicht folgen, nicht hinüberzugehen, mich an Rand des Bettes zu setzen und …
Nein. Ein und für alle Mal. Es war ein Wunsch, der zu nichts führte. Eine wahnwitzige Vorstellung - erzeugt, um mich um den Verstand zu bringen. Mein Leben lag in Boston, nicht bei einem halbwüchsigen Mädchen, das noch dazu meine Schwester war. Ich musste …
„Ethan“
„Guten Morgen, Annabell“, erwiderte ich leise.
„Oh, Ethan …“.
Sehnsuchtsvoll formten ihre Lippen meinen Namen. Ihre Augen waren weiterhin geschlossen. Sie träumte. Sie träumte von mir. Sie wartete darauf, dass ich zu ihr kam. Wenige Schritte trennten uns. Es war kaum zu ertragen, sie nicht zu gehen. Aber diese Nähe war eine Illusion. Welten lagen zwischen uns, wenn ich sie nicht zu einer weiteren bedeutungslosen Eroberung machen wollte.
Ich zögerte, wartete auf eine erneute Einladung, meinen dahin gehauchten Namen. Doch vergeblich. Ich setzte einen Fuß über die Schwelle, ließ dann den nächsten Folgen. Noch ein Schritt in Annabells Richtung. Dann noch einer. Ich setzte mich auf die Bettkante neben sie. Die Konturen ihres ebenmäßigen Gesichts, das zarte Rot ihrer Lippen, die sanfte Linie ihres Halses, alles lag unter mir ausgebreitet. Ihr Duft stieg zu mir empor. In Gedanken beugte ich mich zu ihrem Hals, um noch mehr von dieser Note zu genießen, meine Lippen berührten Ihren Hals … Doch ich wagte es nicht, diesen Gedanken umzusetzen, das Kunstwerk unter mir anzutasten. Ich musste fliehen.
Ich war im Begriff vorsichtig aufzustehen, als Annabell ihre kleine Hand auf meinen Arm legte.
„Ethan … guten Morgen.“
„Guten Morgen.“
Sie lächelte mich an und ich erklärte: „Es war so still im Haus und ich wollte nach Dir sehen. Gut geschlafen?“
„Ja“, sagte sie nur. Tiefe
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